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Musik kennt weder Raum noch Zeit

Ein glücklicheres Publikum als am Samstag kann man sich kaum vorstellen. Da trat nämlich das „Sun Ra Arkestra“ im Festsaal Kreuzberg auf und nahm die Zuschauer mit auf eine turbulente Reise in seinen musikalischen Kosmos

So sah er aus, der grandiose Auftritt des Sun Ra Arkestra im Festsaal KreuzbergFoto:ChristianMang

Von Jenni Zylka

Bei „Angels and Demons at Play“ hält es den Saxofonisten Knoel Scott nicht mehr auf seinem Hocker. Erst hatte der 68-Jährige nur die Augen wie in Trance hochgerollt, bis das Weiße zu sehen war. Dann schnellt er zum Bühnenrand, lässt die Glitzermütze vom Kopf gleiten und beginnt, Purzelbäume zu schlagen, zu hüpfen, zu tanzen, alles im 5/4-Takt des Stücks. Musik kennt schließlich kein Alter und weder Raum noch Zeit – vor allem wenn es „Interplanetary Music“ ist: Das „Sun Ra Arkestra“, das nach der Rückkehr seines Gründers Sun Ra zum Saturn im Jahr 1993 von dem heute 94-jährigen Free-Jazz-Saxofonisten und langjährigen Sun-Ra-Bandkollegen Marshall Allen geleitet wird, ist die afrofuturistische, kontrolliert chaotische und schlichtweg bessere Version einer Big Band. Denn ihre Mitglieder sind nicht mit dem Bandbus vorgefahren, sondern mit dem Raumschiff gelandet. Selbstverständlich in angemessener Space-Kleidung, die nur IgnorantInnen „Kostüme“ nennen: Allen, Scott, Sängerin Tara Middleton mit ihren zwei Oktaven Ausdruck, Saxofonist Charles Davis, Trompeter Michael Ray, die restlichen acht Musiker – alle haben sich wie üblich aus der Glitzerkiste bedient, tragen Lurexstoffe am Körper und auf dem Kopf, dazu güldene ägyptische Herrschaftssymbole an allen Gelenken. Sie sehen damit prächtig aus, wie eine swingende Dose „Quality Street“-Bonbons.

Und wie gut das vestimentäre Glänzen zum Glanz und Klang der Instrumente passt! Zum spacigen Sound des Moog-Synthies, auf dem der Pianist ab und an flirrend soliert, genau wie zu Allens irrem „Winder“, dem Midi-Saxofon, das er klingen lassen kann wie eine Lotuspfeife auf Trip. Nach der interplanetarischen Musik, Scotts Purzelbäumen und der Begrüßung des Publikums mithilfe einer Bläser-Polonaise durch die jubilierenden Gäste im Festsaal Kreuzberg spielen sie das grandiose „Rocket Number 9“ mit seinem „Zoom – zoom – zoom – zoom – up in the air“, und dem Startbefehl für die Rakete: „Take off for the planet / to the planet / Venus!“ Denn der Saturn, den der Fantast und Pazifist Sun Ra als zentralen Punkt in seinen kosmisch-psychedelischen Mythos über die afrikanische Diaspora und ihre Ausgrenzungserfahrungen eingewebt und diesem damit die passende Portion Science-Fiction verpasst hatte, ist schließlich nicht der einzige Planet, auf dem es sich vorbeizuschauen lohnt.

Einstweilen stehen, besser tanzen aber alle noch auf der Erde, genauer gesagt auf der Bühne, und ebenso davor: Ein glücklicheres Publikum als am Samstag kann man sich kaum vorstellen. Tara Middleton, die aussieht wie eine Sonnengöttin im Goldkleid (und höchstwahrscheinlich auch eine ist), singt das poetische, auf einer Alexander-Borodin-Melodie basierende „Stranger in Paradise“, das von Sun Ra bereits in den 50ern in einer Doo-Wop-Variante eingespielt wurde. Und wer noch mehr dahinschmelzen kann, tut es danach, bei „Sunrise“, einem würdevoll-coolen Jazzswinger mit langen Improvisationen. Es wird ohnehin viel improvisiert, gequietscht, gequäkt, disharmoniert. Allens Lunge und seine Stimme, vereinzelt auch sein Taktgefühl scheinen nicht mehr die Kräftigsten zu sein – doch der Sound hat System, vertritt vermutlich eine geheime kosmische Ordnung, die alles zusammenhält.

Um das Zusammen, die Gemeinschaft geht es dem Arkestra, dessen Name ein Brückenwort aus den englischen Begriffen für „Arche“ und „Orchester“ ist, eh in jeder Note. Darum wird auch das Publikum nicht nur mit dem musikalischen Zug durch die Halle begrüßt, sondern später, nach „Watch the Sunshine“, auch genauso wieder verabschiedet. Denn es war kurzfristig Teil dieser sphärischen Crew geworden, durfte für mehr als zwei grandiose Stunden als Gast mit auf die Arche. (Wenn man die Ausdruckstänze am Rande des Festsaals richtig interpretiert, hätten einige Fans zudem nichts dagegen, weiter mitzufliegen.)

Alle durften für mehr als zwei grandiose Stunden mit auf die Arche

Denn immerhin, um einen der legendärsten und am meisten zitierten Songtitel des afrofuturistischen Bandgründers zu nennen, der am Samstag leider (genau wie „Nuclear War“) ausgelassen wurde: „Space is the place.“

Aber apropos: Dass auf der „Voyager Golden Record“, der Goldplatte mit Informationen, Bildern und Sounds der Menschen, die im Jahr 1977 der interstellaren Raumsonde „Voyager“ auf ihrem Weg in den Weltraum mitgegeben wurde, das Sun Ra Arkestra als Klangbeispiel nicht zu finden ist, das ist eigentlich ein handfester Skandal. Von wem würde man sich als Menschheit gegenüber neugierigen Außerirdischen denn lieber vertreten lassen als von einem Kollektiv großartiger MusikerInnen mit Pharaonenmützchen aus Pailletten? Eben.

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