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Die Geschichte des geschundenen Körpers

Der Erfolgsautor Édouard Louis erzählt in „Qui a tué mon père?“ („Wer hat meinen Vater umgebracht?“) den individuellen Verfall des Vaters entlang der Geschichte der französischen Sozialreformen

Eine für die Picardie typische Ortsansicht. In einem ähnlichen Ort vollzog sich das Schicksal von Édouard Louis’ Vater Foto: Steven Wassenaar/Polaris/laif

Von Miryam Schellbach

Die Erfolgsbilanz des gerade 25-jährigen französischen Schriftstellers Édouard Louis sucht ihresgleichen: Zwei autobiografische Romane, die Kindheit, Jugend und Adoleszenz inmitten von Armut, Krankheit und Gewalt erst in der französischen Provinz, dann auch in Paris thematisieren. Es sind zwei Bestseller, auf die der Schritt in die akademische Welt folgt. In diesem Sommersemester hatte Louis als der wohl jüngste Kandidat, den die Berliner Freie Universität je mit dieser Auszeichnung versah, die Samuel Fischer-Gastprofessur inne. Auch in Berlin blieb er sich treu. Auf der Lektüreliste seines Seminars zu Literatur und Gewalt standen neben Marguerite Duras und Toni Morrison auch Michel Foucault, einen Ehrenauftritt hatte Didier Eribon.

Just vor dem Antritt seiner Professur veröffentlichte Louis nun sein drittes Buch im französischen Traditionsverlag Éditions du Seuil. Formal schlägt „Wer hat meinen Vater umgebracht“ neue Wege ein. Im Zentrum des Textes steht eine nüchtern-diagnostische Schuldbestimmung, flankiert wird sie von einer anrührenden Liebeserklärung an den durch Armut und Krankheit gezeichneten Vater. Was den Teil der Anklageschrift angeht, so lässt sich festhalten, dass zumindest der Angeklagte bereits – etwas erratisch – reagiert hat. Binnen weniger Tage ließ der Élysée-Palast über den Kurznachrichtendienst Twitter verlauten: „Wir lesen Édouard Louis!“ Dieses offene Bekenntnis der französischen Regierung überrascht angesichts der Tatsache, dass Louis neben den ehemaligen Präsidenten Sarkozy und Holland auch den aktuellen, Emmanuel Macron, als für das väterliche Leid verantwortlich anzeigt.

Aber von vorn. Die Veröffentlichung seines Debütromans „Das Ende von Eddy“ führte 2014 zum Bruch mit dem Vater. In dem Roman spricht Louis über seine Kindheit in prekären Verhältnissen in der Picardie, verabschiedet sich performativ von seinem Geburtsnamen Eddy, der in Frankreich, ähnlich übrigens wie die französischen Namen in Deutschland, als Chiffre für das sogenannte Arbeitermilieu fungierte. Thematisch ist auch das Entdecken der eigenen Homosexualität unter erschwerten Bedingungen. Homophobie und Rassismus der nordfranzösischen Provinz, Klassenaufstieg, Milieuwechsel, Umzug nach Paris, die soziale Scham des Arbeiterkindes als Moment des gesellschaftlichen Ausschlusses. Als dann auch noch ein französischer Journalist den Namen des Heimatdorfes öffentlich macht, ist dies zu viel für die Familie, die sich ihrer Privatheit beraubt sieht und die Verbindung zu Louis abbricht.

Fünf Jahre später verzeiht der Vater, Louis kehrt in sein Heimatdorf zurück und findet einen gebrochenen Mann. Der Fabrikarbeiter hatte einst – da hieß Édouard noch Eddy und lebte mit der sechsköpfigen Familie in einer winzigen Wohnung – einen schweren Arbeitsunfall, er brach sich die Wirbelsäule und musste mehrere Jahre untätig zu Hause bleiben. In der Folge prekarisiert sich die Familie stärker. Louis verlässt das Dorf und schreibt sich für ein Soziologiestudium in Paris ein. Im picardie’schen Mikrokosmos kommt das einem gesellschaftlichen Suizid, einem Wechsel auf die andere Frontseite gleich. Dies passiert etwa in der Zeit, in der die Regierung unter Nicolas Sarkozy im Jahr 2009 die Sozialhilfe durch Sozialleistungen, die an eine aktive Bemühung um einen Arbeitsplatz geknüpft sind, ersetzt. In der Konsequenz ist Louis’ Vater trotz der lebenslangen Schmerzen im Rücken, die der Unfall am Arbeitsplatz hinterlassen hatte, dazu gezwungen, eine Arbeit aufzunehmen.

Währenddessen liest Louis die soziologischen Kampftexte von Didier Eribon. Die zunächst akademische, dann auch private Begegnung mit dem französischen Soziologen beeinflusst Louis Werk zusehends. Wie auch Eribon in seinem Kultbuch „Die Rückkehr nach Reims“, glaubt Louis an die emanzipative Kraft individueller Befreiungsgeschichten. Soziologenprosa könnte man dieses Genre nennen, das Milieu-Ethnografie und Erinnerungsfragment so gekonnt zusammenführt.

Stark ist Louis’ Ringen um die Repräsentation eines in der Öffentlichkeit unsichtbaren Milieus

„Wer hat meinen Vater umgebracht“ ist der Versuch, den individuellen Verfall des Vaters zu erzählen und ihn zugleich als soziologische Symptom zu lesen. Louis inszeniert die Geschichte des väterlichen Körpers entlang der Geschichte der französischen Sozialreformen. Um das Recht auf den Empfang von Sozialleistungen nicht zu verlieren, beginnt der Vater schlussendlich, dem kaputten Rücken zu Trotz, eine Tätigkeit als Müllaufsammler, „für siebenhundert Euro im Monat, den ganzen Tag nach vorne gebeugt, um den Müll der anderen aufzusammeln, obwohl dein Rücken zerstört war.“ Louis klagt auf den letzten Seiten des Buchs den damaligen Präsidenten und einen Gesundheitspolitiker persönlich an: „Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen.“

Dabei belässt er es nicht. Es finden sich in diesem schmalen Büchlein noch weitere, bittere und bis an die Spitze des Möglichen personifizierte Anklagen, die die französische Politik plötzlich ganz greifbar erscheinen lassen. Beschuldigt wird etwa auch die sozialistische Arbeitsministerin El Khomri, die 2016 unter dem damaligen Präsidenten Hollande das Arbeitsgesetz reformiert, damit Kündigungen erleichtert und Betriebsvereinbarungen gegenüber Tarifabmachungen priorisiert, sodass betriebsinterne Ausweitungen der Arbeitszeit und verpflichtete Überstunden gesetzeskonform sind.

Louis resümiert die Folgen dieser Reformen in direkter Ansprache an seinen Vater, der inzwischen nicht mehr nur an Wirbelsäulenproblemen, sondern auch unter schwerer Diabetes und Atemnot leidet. Nach der Reformierung der Gesetze kann die Firma, in der sein Vater angestellt ist, ihn dazu zwingen, noch länger zu arbeiten, „mehr Stunden am Tag den Müll der anderen zu sammeln“. Louis schlussfolgert: „Hollande, Valls und El Khomri haben dir die Luft genommen.“

Nur bei den Arbeitern, den nicht-Privilegierten, haben Sozialreformen die Macht, sich direkt auf den Körper auszuwirken, sich einzuschreiben und krankzumachen. Deswegen ist die Geschichte des geschundenen Körpers eine Geschichte der Politik. Als die Regierung Macron im August 2017 die Wohnungsbeihilfe um fünf Euro kürzt, betont sie, dass eine so geringe Differenz niemandem weh tut. Sie wissen es einfach nicht besser, findet Louis: „Emmanuel Macron reißt dir noch den letzten Bissen Nahrung aus deinem Mund.“

Es gibt neben dieser lauten, wortreich anklagenden Stimme noch einen leisen, einen intimen Ton, in dem sich Louis’ faszinierender Blick für die Bedeutung einer Geste, eines Blicks, einer Berührung offenbart. Dieser Ton ist immer ein bisschen neben der Spur, die Sätze kommen unerwartet und sind oft unterkomplex, fast so, als hätte der junge Schriftsteller gerade erst sprechen gelernt, als hätte er vor der Verschriftlichung dieses Buches kein anderes in der Hand gehabt, das die Prägnanz der eigenen Stimme schmälert. Die sehr intimen Stellen des Textes sind oft szenisch, die Reflexivität ist zurückgeschraubt, sodass vor allem die Körper sprechen, etwa wenn die Erzählsituation des Buches gleich zu Anfang in ein Bild gefasst wird: „Ein Vater und sein Sohn stehen mit der Entfernung einiger Meter nebeneinander auf einem großen Platz, weit und leer“, sie schauen sich niemals an, nur der Sohn spricht und dass nur der Sohn spricht, verletzt beide.

Der Autor Édouard Louis Foto: Jérôme Bonnet/modds/S. Fischer Verlag

Louis hat ein politisches Programm. Er will für diesen Vater sprechen, der nicht gelernt hat – nicht lernen konnte – das eigene Leben als Narrativ zu begreifen, das auf eine politische oder gesellschaftliche Struktur verweist. Louis zeigt sich als wortgewaltiger Anwalt einer Arbeiterklasse, die sich auch von der politischen Linken verraten fühlt und die sich, überhaupt und allgemein, als unterrepräsentiert versteht. Dieser Anwalt vertritt einen Kläger, der verlernt hat, für die eigene Sache zu sprechen. Der Kläger ist die vergessene Arbeiterklasse, der Kläger ist aber auch Édouard Louis’ Vater selbst.

Natürlich ist hier viel Pathos im Spiel, natürlich mahnt gleich der Zeigefinger des politisch Geschulten, dass es so einfach nicht ist, mit der personifizierten Anschuldigung gewählter Funktionsträger. Auch die politische Wende des geläuterten Vaters, der nach der Lektüre von „Eddy“ scheinbar phoenixhaft die Rassismen und Homophobie, die Louis noch im ersten Buch so drastisch geschildert hatte, abgelegt hat, läuft etwas zu glatt ab.

Doch was diesen Text so stark macht, ist das Ringen um die Repräsentation eines in der Öffentlichkeit unsichtbaren Milieus. Louis hat eine Obsession. Er will eine literarische Form finden, die Menschen wie seinen Vater in die Mitte der Gesellschaft zurückholt. Was er erfunden hat, ist eine hybride Form. Es ist Erinnerungsprosa, Milieu-Ethnografie und Politanklage – kondensiert in einem schmalen Büchlein, als wollte der Autor sagen, dass dies die Zeit und das Thema für große Romane nicht ist.

Édouard Louis: „Qui a tué mon père“. Éditions du Seuil, Paris 2018, 84 Seiten, 16,49 Euro (im Dezember auf Deutsch bei S. Fischer).

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