: Deutsche Bekenntnisse zur Gewaltbereitschaft
Der französische Spitzendiplomat André François-Poncet analysierte in seinen Berichten nach Paris hellsichtig schon früh die Gefährlichkeit des Naziregimes
Jean-Marc Dreyfus (Hrsg.): „Geheime Depeschen aus Berlin. Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus“. Aus dem Französischen von Birgit-Lamerz-Beckschäfer, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018, 255 S., 20,99 Euro
Von Rudolf Walther
André François-Poncet (1887–1978) war von 1931 bis 1938 Botschafter Frankreichs in Berlin. Er schickte jährlich bis zu 1.500 Berichte und chiffrierte Telegramme nach Paris. 1943 verhafteten ihn die Nazis im besetzten Frankreich und internierten ihn in Tirol. 1949 wurde François-Poncet französischer Hochkommissar, 1953 bis 1955 Botschafter in Bonn. 1955 bis 1967 leitete er das Internationale Rote Kreuz. Als konservativer Republikaner hegte er nach 1940 zeitweise Sympathien für das Vichy-Regime, aber in seiner Zeit als Botschafter in Berlin war er der Demokratie verpflichtet – mit wachem Blick auf die politische Entwicklung.
Zunächst unterschätzte François-Poncet Hitler, etwa in seinem Bericht vom 9. Februar 1933 als „Dorf-Mussolini“, korrigierte aber sein Urteil schon zwei Wochen später und erkannte in Hitlers „vorgeblichem ‚Sozialismus‘“ eine kaschierte „Rückkehr zu einem militaristischen Deutschland“. Drei Jahre später, am 18. Juni 1936, sah er „das Hitlerregime“ auf dem Weg zum „totalen Krieg. Im Zeichen des Bündnisses zwischen Hitler und dem Generalstab ist das nationalsozialistische Deutschland dabei, sich zum gewaltigsten militärischen Werkzeug zu entwickeln, das es je gab.“
Lust auf Eroberungen
Die ideologische Gleichschaltung der Presse entging dem diplomatischen Beobachter so wenig wie die Indoktrination in den Schulen. Einer Rede des Innenministers Wilhelm Frick entnahm er im Juli 1933 das Bildungsprogramm der neuen Machthaber: „Die Geschichte, die Herr Frick den Kindern beibringen lassen will, ist nicht die Geschichte Deutschlands, sondern die der germanischen Rasse.“ Aus den Reden von Goebbels und Göring las er ein Bekenntnis zur „Gewaltbereitschaft“ sowie eine „gefährliche Lust auf Eroberungen und Imperialismus“.
François-Poncet durchschaute die durch den Scheinlegalismus erschwindelte Normalität – etwa bei der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes unter dem „Schutz“ bewaffneter SA- und SS-Männer im Reichstag, den 81 bereits verhaftete kommunistische und 8 sozialdemokratische Abgeordnete gar nicht mehr betreten konnten. Der Botschafter ließ sich weder vom Titel des Gesetzes – „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ – noch von der „streng und perfekt inszenierten parlamentarischen Legalisierung der Diktatur“ täuschen.
Irritiert zeigte sich François-Poncet bereits Anfang April 1933 vom Ausbleiben von Opposition und Widerstand. „Besonders traurige Aspekte des Schauspiels, dem wir seit zwei Monaten beiwohnen, sind die Kleinmütigkeit der Gegner des neuen Regimes, der schwache Widerstand der Oppositionsparteien.“
Ansätze zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus entdeckte er im Sommer 1935 „nur bei Katholiken“, was historisch nicht richtig, aber aus der Perspektive und der exponierten Stellung des Diplomaten, von der aus ihm der Widerstand im Untergrund unsichtbar bleiben musste, plausibel ist.
Aufmerksam verfolgte der Botschafter die „Säuberungsaktion“ in Justiz und Verwaltung und vor allem die „widerwärtigen Judenverfolgungen“ und „die Schikanen gegenüber wehrlosen Juden“. Die illegalen „wilden“ Aktionen von SA-Banden und die quasi-legalen staatlichen Praktiken nehmen in den Berichten einen großen Raum ein. Der Bericht des Botschafters vom 9. Mai 1935 schließt mit den prophetischen Sätzen: „In Erwartung weiterer, noch brutalerer Methoden“ der Judenverfolgung „bildet das neue Gesetz den letzten Schritt vor der Ghettoisierung“. Der Diplomat unterschätzte wie die meisten Zeitgenossen den massenhaft getragenen Willen der Herrschenden, auch das bislang Undenkbare zu tun und bis zum Massenmord fortzuschreiten. Die Berichte, die nun, herausgegeben von Jean-Marc Dreyfus, in einer kommentierten Auswahl dankenswerterweise vorliegen, bergen keine Sensationen, aber sie zeigen, was Beobachter schon vor dem Krieg sehen konnten, wenn sie es denn wollten und sich die Augen und Ohren nicht freiwillig verklebten.
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