Die Wahrheit: Schwarzfahrer unter sich
True story: Wenn Männer zwischen allen Abteilen stehen, kann es schnell um politisch inkorrekte Dinge gehen. Oder um Fahrkarten.
E in hartnäckiger Pickel am haarigen Arsch der sozialen Medien ist das virtue signalling. Mit einem Kommentar wie „Martenstein? Voll der alte weiße Mann!“ ist es schon vollbracht, ich habe aufwandslos meine Tugendhaftigkeit ausgestellt und darf mich prächtig oder mindestens einer diffus jungbunten Gruppe zugehörig fühlen, die bestimmt Prächtiges zuwege brächte, wenn sie denn etwas täte, statt das immer nur zu behaupten. Ich hingegen behaupte nie etwas und lasse mich lieber von meinen Taten überraschen.
So fahre ich also mit dem Intercity vom Mannheim nach Mainz, im Raum zwischen den Abteilen stehend. Neben mir hält sich dort nur ein junger Mann mit, wenn diese übergriffige Zuschreibung erlaubt ist, nordafrikanischer Anmutung auf. In seinen billigen Sportklamotten und mit der verkehrt herum aufgesetzten Schlagballmütze macht er auf mich, wenn diese noch übergriffigere Zuschreibung erlaubt ist, einen ebenso windigen wie verschwitzten Eindruck.
Wir nicken uns kurz zu. Ich kann nicht behaupten, dass ich mir „gar nichts dabei denke“. Ich denke mir etwas, das sich vielleicht mit „Puh, na ja, tja“ übersetzen lässt, und zurre meine Umhängetasche mit Laptop und Geldbeutel enger. Vor allem, weil der junge Mann mich mit öligem Blick immer wieder beäugt. Dann fasst er sich ein Herz und spricht mich an: „Duticke?“
Ich ticke, Du Ticke
Ich ticke? Er nickt eifrig und präzisiert: „Du auch kein Ticke?“ Ach so, weil ich auch hier stehe wie er, hält er es für möglich, dass auch ich kein Ticket habe wie er. Im Abteil vorne kontrolliert schon die Schaffnerin. Ich deute halbherzig auf die Toilettentür, da könne er sich doch verstecken. Er schüttelt den Kopf und schwitzt weiter, vermutlich Blut und Wasser. Als die blonde Schaffnerin ihn nach seinem Fahrschein fragt, beäugt er sie ölig und schüttelt bedauernd den Kopf.
„Oh“, sagt die Schaffnerin, ebenfalls bedauernd, und tastet nach ihrem Handy. Da komme ich auf die Idee, ihm die Fahrt zu bezahlen. Neunzehn Euro. Das ist nur recht und billig, denke ich, und überdies günstig. Die Schaffnerin schenkt mir einen überraschend warmen Blick, als wären wir beide von der „Ambulanten Schwarzfahrer-Hilfe e. V.“, stellt lächelnd das Ticket aus und zieht weiter.
Mein neuer Freund kann sein Glück kaum fassen, einen Dummen gefunden zu haben, der ihm seine Ordnungswidrigkeit finanziert und dabei hilft, dieses Land zugrunde zu richten. Wir unterhalten uns über sein Schicksal als Flüchtling ohne Geld, aber mit Freundin in Mannheim, über Deutschland („Voll Dreckloch!“) und Marokko („Voll Paradies!“). Wenn das so ist, sage ich mit wutbürgerlichem Nachdruck, soll er sich doch wieder in sein Paradies verpissen. In Mainz scheiden wir unter Gelächter und gegenseitigem Schulterklopfen.
Wahrscheinlich bin ich, wenn diese übergriffige Zuschreibung erlaubt ist, ein schlechter Gutmensch.
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