: „Man muss nur gerne lesen und Kinder mögen“
Die Lesekompetenz von Grundschülern ist gesunken. Seit 15 Jahren helfen ehrenamtliche Lesementoren Kindern beim Lesen lernen. Vielerorts fehlen ihnen allerdings Mitstreiter
Von Joachim Göres
Flora liest. Eine Geschichte aus „Paula das Walross“. Oder ein Kapitel über Ballons und warum sie fliegen. Mit dem Zeigefinger geht die Grundschülerin die Buchstaben entlang, damit sie weiß, bei welchem Wort sie gerade ist. Flora liest langsam und sehr konzentriert. Neben ihr sitzt Barbara Bodmann, stellt ihr manchmal Fragen zu den Texten und lobt Flora häufig. Manchmal wechseln die beiden sich beim Lesen ab, manchmal beginnen sie zusammen und Bodmann wird immer leiser, während Flora weiterliest. Ab und zu korrigiert die ehemalige Berufsschullehrerin die Betonung oder Aussprache. Sie ist Lesementorin – seit Anfang dieses Schuljahres trifft sie Flora einmal die Woche in einer Grundschule im niedersächsischen Celle, um mit ihr zu lesen.
Am liebsten liest Flora die Kinderzeitung, die ihre Mentorin immer mitbringt. In der neuesten Ausgabe geht es um: „Die Marienkäfer sind unterwegs“. „Können wir die Scherzfrage machen?“, fragt Flora und liest vor: „Was fliegt schneller: Marienkäfer oder Schnellzug?“ Auf die Antwort: „Ein Schnellzug“ entgegnet sie: „Nein, ein Schnellzug kann nicht fliegen!“ Bodmann freut sich, dass Flora bei der Frage mit der Stimme nach oben gegangen ist und sie richtig betont hat. Flora freut sich, dass ihre Mentorin mit ihr beim Lesen gerne Späße macht: Manchmal nimmt Bodmann eine Stoffeule in die Hand und liest mit verstellter Stimme und auf einmal ganz schlecht. Das Mädchen übernimmt dann die Lehrerinnenrolle und korrigiert die Fehler.
Ein Erwachsener kümmert sich eine Schulstunde lang um ein Kind – das ist das Prinzip der Lesementoren. Sie arbeiten ehrenamtlich. Die Kinder für diese Einzelbetreuung werden von ihren Schulen ausgewählt. Viele von ihnen können nicht so flüssig lesen und haben Schwierigkeiten, den Sinn zu verstehen. Nicht selten stolpern sie beim Lesen über unbekannte Wörter – was ist eine Primel, was ein verdutzter Vater? Oberstes Ziel: Das Lesen soll Spaß machen. Schulbücher sind tabu. „Wichtig ist die Abwechslung“, sagt Bodmann. Die Bücherauswahl sollte sich nach den Vorlieben der Kinder richten. „Ein Junge bei mir mag Krimis – wenn er den Täter rauskriegt, ist er stolz wie Oskar“, sagt Bodmann. Allerdings dürfe man Kinder nicht überfordern – „wenn die Konzentration nachlässt, erzählen wir einfach oder spielen miteinander.“
Nach aktuellen Studien kann jeder fünfte Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen. Sabine Evert, seit zehn Jahren Mentorin im schleswig-holsteinischen Halstenbek, sucht nach Gründen dafür: „Die Anforderungen in den Grundschulen sind in den letzten Jahren höher geworden. Zudem wird in immer weniger Familien vorgelesen.“ In Halstenbek helfen 15 Frauen und fünf Männer beim Lesen, die meisten im Rentenalter. Das sind allerdings noch nicht genug: „Der Bedarf an den Grund- und Gemeinschaftsschulen ist viel größer“, sagt Evert. Sie jedenfalls will ihr Ehrenamt nicht mehr missen. Wer einmal angefangen habe, bleibe meist mehrere Jahre dabei, so Evert: „Man bekommt ja so viel positive Reaktionen von den Kindern zurück.“
Inge Lange, ehemalige Ausbilderin bei der Telekom, koordiniert den Einsatz der Mentoren im niedersächsischen Nordhorn und Umgebung. Sie sagt, ein Mentor brauche keine pädagogische Ausbildung. Wichtig sei Geduld und Herzlichkeit: „Man muss nur gerne lesen und Kinder mögen“, sagt Lange. Wenn sie selbst Kindern beim Lesen hilft, versucht sie herauszufinden, was das Kind von dem gerade Gelesenen verstanden hat – aber nicht über Abfragen, sondern z.B. mit Hilfe von Rätseln am Ende einer Geschichte. „Die Kinder sind stolz, dass sich ein Erwachsener für sie alleine so viel Zeit nimmt“, sagt Lange, „ihr Selbstbewusstsein wächst und oft beteiligen sie sich schon nach kurzer Zeit viel mehr am Unterricht.“
Bundesweit gibt es 11.000 Mentoren in 73 Vereinen, die 14.000 Kinder zumeist zwischen acht und elf Jahren betreuen. Aus Sicht der Ehrenamtlichen könnten es mehr sein: „Ich hoffe auf 50.000 Mentoren, davon mindestens 10.000 Männer. Von ihnen haben wir viel zu wenig und sie sind gerade für Jungen wichtig“, ist der Buchhändler Otto Stender überzeugt, der vor 15 Jahren in Hannover den Lesementorenverein gründete.
Flora liest mittlerweile so gut, dass sie im nächsten Schuljahr keine individuelle Betreuung mehr benötigt. Das hört sie allerdings gar nicht gerne: „Dann muss ich wohl wieder schlechter lesen, damit ich weiter zu Frau Bodmann kommen darf!“
Auf www.mentor-bundesverband.de gibt es Tipps, wie man sich engagieren kann und wo noch Mentoren fehlen.
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