: Eine Art Schicksalsmosaik
Drei Frauen, ihre Familien und zwei Morde: Margriet de Moor zeichnet in „Von Vögeln und Menschen“ ein erschreckend schönes Bild der grausamen Menschennatur
Von Katharina Granzin
Es gibt Bücher, bei denen man beim Lesen gar nicht merkt, wie irritierend sie eigentlich sind, die aber seltsam im Kopf nachhallen. Dieses hier ist so eins. Die große Erzählerin Margriet de Moor, im Erstberuf Musikerin, weiß natürlich um die Wirkung einer nicht aufgelösten Dissonanz. Hier ist es ein wenig so, als habe sie dieses Prinzip in die Literatur übertragen. Denn „Von Vögeln und Menschen“ mag zwar in einem scheinbar freundlichen Dur-Akkord ausklingen. Aber irgendwo im Hintergrund hallt ein störender Misston nach, den in geordnete Verhältnisse zu überführen, sich niemand bemüht hat.
„Von Vögeln und Menschen“ – allein dieser Titel, der in seiner lapidaren Formulierung eine seltsame Allgemeingültigkeit zu behaupten scheint. Ja, von Vögeln handelt der Roman am Rande auch, aber nur insofern, als ihre Existenz als metaphorische Folie für das Menschendasein herhält. Was Margriet de Moor über die Menschen zu erzählen hat, ist traurig und erschreckend und bei all dem auch schrecklich banal. Drei Frauen stehen im Zentrum ihrer Erzählung, die sich auf kunstvoll ineinandergeflochtenen Neben- und Umwegen entfaltet: Eine Frau, die einen alten Mann umbringt, weil er sie beim Klauen erwischt hat. Eine andere Frau, die dieses Mordes verdächtigt wird, den sie nie begangen hat, und in einer schwachen Stunde sogar ein Geständnis dafür ablegt und ins Gefängnis muss. Und eine dritte, junge Frau, Tochter der zweiten, die seit der Verhaftung der Mutter einen unzähmbaren Hass in sich trägt, und die als Erwachsene schließlich die erste Frau, die wahre Mörderin, tötet.
Es gäbe viele verschiedene Arten, eine solche Geschichte zu erzählen. Margriet de Moor wählt eine pointiert undramatische Vorgehensweise, bei der sie so nah wie irgend möglich an ihren Figuren bleibt, sie in ihren intimsten, privatesten Alltagsmomenten zeigt. Sie beginnt ihre Erzählung im Bett der jungen Mörderin, Marie Lina, die morgens noch schläft, als ihr Mann Rinus, der als Vogelvergrauler auf dem Flughafen arbeitet, von seinem Nachtdienst nach Hause kommt. Derweil beobachten bereits Polizisten das Haus, um die Verdächtige bald darauf zu verhaften – ein erster Misston in der friedlichen Morgenstimmung.
Ansonsten fließt der Erzählfluss scheinbar sanft und freundlich dahin. Wie in einer Art Kettenerzählung werden Haupt- und Nebenfiguren ein- und vorgeführt, jede mit ihrer eigenen kleinen Geschichte, jede in ihrer eigenen kleinen Zeitblase, eine lineare Chronologie gibt es lange nicht.
Margriet de Moor: „Von Vögeln und Menschen“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Hanser, München 2018, 272 S., 23 Euro
Eine Art Schicksalsmosaik setzt sich so zusammen – wenn nicht „Schicksal“ vielleicht doch ein zu großes Wort für die merkwürdig zufällig scheinende Verflechtung all dieser Menschenleben ist. Wie ungerecht wäre es sonst vom „Schicksal“, dass gerade dieser alte Mann, der noch im hohen Alter unter Einsatz seines eigenen Lebens einen Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat, eines gewaltsamen Todes sterben soll? Bruno Mesdag wird ermordet, nur weil er seine Fußpflegerin beim Plündern seines Sekretärs überrascht hat. Für ein paar hundert Gulden. Die Frau hat ihre Bluttat nicht geplant. Sie begeht den Diebstahl für ihren nichtsnutzigen Bruder, mit dem sie in einer quasi-inzestuösen Beziehung lebt.
Woher die plötzliche Gewaltaufwallung kommt, bleibt unklar. Margriet de Moor schildert zwar die entscheidenden Minuten des Mordes aus Sicht der Täterin. An anderer Stelle schildert sie auch, wie die Nichttäterin, die für die Tat verurteilt wird, zu ihrem seltsamen Geständnis getrieben wird, was ja eine ebenso rätselhafte Handlungsweise ist. Aber die ganze Zeit bleibt die Erzählung so extrem dicht bei den Figuren, dass durch die Nahsicht eine psychologisierende Perspektive praktisch ausgeschlossen ist. De Moors Figuren denken nicht, sie fühlen nur, und handeln aus Impulsen heraus, die ihnen selbst unbewusst sind und von denen daher auch die Erzählung nichts weiß.
Dass es keinerlei Erklärungen gibt, ist nachhaltig verstörend, denn wir sind es normalerweise gewöhnt, dass die Literatur die Welt wenigstens ein kleines bisschen für uns sortiert. De Moors Mörderinnen sind noch schwerer auszuhalten als etwa der nihilistische Raskolnikov, der bei Dostojewski immerhin noch im Nachgang mit der moralischen Dimension menschlichen Handelns konfrontiert wird. Hier nichts dergleichen. Die junge Marie Lina, die bereitwillig für den Mord, den sie mit vollem Bewusstsein begangen hat, ins Gefängnis geht, lebt ihr Leben danach genauso weiter wie zuvor. Die Mutter ist gerächt, das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt; ihr Mann und ihr Sohn lieben sie, und die ethische Fragwürdigkeit ihrer extremen Tat wird niemals thematisiert. Schließlich war sie ein paar Jahre im Gefängnis, das muss reichen.
Ein kleiner Kanarienvogel, eingesperrt in seinem Käfig wie Marie Lina in ihrer Zelle, leistete ihr dort Gesellschaft. Und was haben sonst die Vögel hier mit den Menschen zu tun? Eigentlich nicht viel, außer dass Maria Linas Mann, wie erwähnt, als Vogelvergrauler auf dem Flughafen arbeitet. Das ist eine schöne Arbeit im Freien, und mag diese Beschäftigung auch auf den ersten Blick absurd wirken, so ist sie es vielleicht nicht mehr und nicht weniger als das meiste andere im Leben der Menschen und der Vögel. Die Vogelszenen auf dem Flughafen haben, wie Margriet de Moor sie schildert, viel von idyllenseliger Naturpoesie. Alles ist, wie es ist. Vögel sind Vögel sind Tiere, und Menschen sind in Wirklichkeit auch nicht viel anders.
Aber kann man das wirklich so machen? De Moors antipsychologische Nahporträts von Menschen, die sich niemals moralisch Rechenschaft ablegen, sind erschreckend in ihrer Gelassenheit angesichts der Monstrosität des Geschehens. Die Schönheit ihrer Sprache (sehr gut zu lesende Übersetzung, übrigens!) spiegelt sich in der Schönheit der Menschen, der Vögel, der Welt an sich in diesem Roman, der in großen, ästhetisierenden Schlussbildern ausklingt, oder musikalisch: einer vollendeten Schlusskadenz. Aber von irgendwoher stört eben jener quälend unpassende Ton ganz leise die Harmonie. Und man fragt sich: Hört das denn wirklich niemand?
Auf einer anderen Ebene möchte man fragen: Darf die Literatur das? Oder: sollte sie? Aber ja, die Kunst darf und soll alles, was sie kann. Margriet de Moor kann.
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