: Die Angst vor dem Rückschritt
VON ANTJE BAUER
Bis vor einem Jahr war es in Marokko wie in den meisten islamischen Ländern: Wenn ein Mann seine Ehefrau loswerden wollte, reichte es, wenn er dreimal „Ich verstoße dich“ sagte, und sie musste mit Sack und Pack das Haus verlassen. Der Mann nahm sich dann in der Regel eine andere Frau; vor Unterhaltszahlungen drückte er sich zumeist. In den Städten Marokkos konnte man deshalb häufig nachts Frauen mit kleinen Kindern auf der Straße schlafen sehen. Viele dieser verstoßenen Frauen prostituierten sich, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Wenn eine Frau hingegen ihren Mann loswerden wollte, so war das ziemlich schwierig: Sie musste vor einem Richter zwingende Gründe anführen und für die Stichhaltigkeit dieser Gründe Zeugen beibringen. Immer wieder wurden Frauen mit Polizeigewalt ins eheliche Heim zurückbefördert.
Vor einem Jahr nun trat in Marokko ein neues Familienrecht in Kraft. Eine kleine Revolution in der islamischen Welt. Seither gibt es Scheidungen nur noch vor dem Richter, und die Bedingungen für eine Scheidung sind für Mann und Frau gleich. Nach einer Scheidung muss der Mann das gemeinsame Haus verlassen, die Frau bleibt mit den Kindern dort wohnen. Das neue Gesetz zeitigte erstaunliche Folgen: Die Zahl der Eheschließungen nahm seither zu, die Zahl der Scheidungen ab. „Die Frauen wollten früher nicht heiraten, weil sie Angst hatten“, sagt Nouzha Skalli, eine marokkanische Parlamentsabgeordnete. „Sie sagten: Wenn man erst mal verheiratet ist, kommt man nicht wieder raus. Und die Scheidungsrate ist gesunken, denn viele Männer wollen ihre Frauen verstoßen, aber wenn sie merken, dass das an bestimmte Bedingungen gebunden ist, sehen sie ein, dass sie sich mäßigen müssen.“
Den Frauenrechtlerinnen, insbesondere in der arabischen Welt, gilt Marokko als leuchtendes Vorbild. Außer in Tunesien ist es noch in keinem arabischen Land gelungen, ein Familienrecht durchzusetzen, das sich nicht am islamischen Recht orientiert. Wie gelingt es, eine politische Konstellation zu erreichen, in der solche Erfolge möglich sind? „Die Marokkanerinnen haben etwas ganz Wichtiges verstanden: Man kann nichts verändern in der arabischen Welt, wenn man nicht drei sehr wichtige Komponenten einbezieht: die politische Führung, die religiöse Führung und die Frauenorganisationen“, sagt Azza Karam vom Regionalbüro für arabische Staaten des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP).
In Marokko setzten sich die Frauenorganisationen – unterstützt von der Zivilgesellschaft – bereits seit den 80er-Jahren für die Rechte der Frauen ein – die längste Zeit ohne sonderlichen Erfolg. Erst als 1998 transparente Wahlen stattfanden und die demokratische Opposition an die Regierung kam, fanden die Frauen mit ihrem Anliegen, die Mudauana, das Familienrecht, zu verändern, ein wenig mehr Gehör. Ihre Position wurde stärker, als 2002 eine Art Frauenquote eingeführt wurde, wodurch erstmalig 10 Prozent Frauen ins Parlament gewählt wurden, darunter auch Nouzha Skalli, die zuvor 30 Jahre lang erfolglos kandidiert hatte. Dass diese „positive Diskriminierung“ gegenüber Frauen eingeführt wurde, lag daran, dass weltweit die Verteidigung von Frauenrechten en vogue war. „Es hat politischen und moralischen Druck auf die politischen Parteien gegeben, im Sinne: Es ist eine Schande für unser Land, weltweit ein Schlusslicht zu sein, wenn es um Frauenrechte geht. Dabei gibt sich Marokko doch modern“, sagt Nouzha Skalli. Das war der zweite der von Azza Karam angeführten drei Grundpfeiler. Der dritte, die Einbindung der religiösen Führer, erfolgte mittels eines Tricks. Mohammed VI., der junge König Marokkos, steht Frauenfragen aufgeschlossen gegenüber. Er präsentierte Ende 2003 die reformierte Mudauana dem Parlament, und sie wurde einstimmig verabschiedet – mit den Stimmen der islamistischen Abgeordneten. „Der König ist die oberste religiöse Autorität. Das ist in der Verfassung festgehalten. Und er hat dieses Reformprojekt in seiner Funktion als amir al-mu’minin, als Beherrscher der Gläubigen, vorgetragen. Die islamistischen Gruppen konnten sich nicht weigern, denn sie agieren im Rahmen der Verfassung“, sagt Nouzha Skalli.
Ein langer Atem, eine günstige politische Konstellation und taktisches Geschick, so lässt sich das marokkanische Rezept für die Durchsetzung von Frauenrechten zusammenfassen. Ein wichtiger Faktor jedoch war auch, dass mit der Verteidigung von Frauenrechten weltweit Achtungserfolge erzielt werden konnten. Dieser Aspekt verliert jedoch inzwischen zunehmend an Bedeutung.
Während die IV. Weltfrauenkonferenz in Peking vor zehn Jahren noch im Zeichen des Aufschwungs und der Erwartung stand, auf die dort aufgestellten Forderungen später weitere aufbauen zu können, bläst den Frauenrechtlerinnen heute der Wind ins Gesicht. Zum einen, weil bei bewaffneten Konflikten alle Politik der Kriegslogik untergeordnet wird. Besonders im arabischen Raum, wo „Antiterrorismus“ (bzw. „Widerstand gegen die USA, Israel etc.“) gern zur Rechtfertigung für das Festhalten an Traditionen bzw. für die Rückkehr zu patriarchalischen Mustern angeführt werden. Aber nicht nur dort. Azza Karam, die in den Vereinigten Staaten lebt, sagt: „Die USA fühlen sich in einer Kriegssituation, auch wenn das rein formal nicht so ist, und deshalb hat man sofort die rechten politischen Bewegungen gegen sich, wenn man versucht, Frauenrechte einzufordern.“
Zum anderen werden seit dem Siegeszug der neoliberalen Doktrin trotz anderslautender politischer Deklamationen vor allem wirtschaftliche Kriterien an gesellschaftliche Entwicklungen angelegt, wobei die Ausgrenzung und Schlechterstellung von Teilen der Bevölkerung – auch der Frauen – billigend in Kauf genommen wird. „Die ökonomischen und sozialen Politikmodelle, die in den vergangenen 20 Jahren vorherrschend waren, hatten für die Frauen sehr negative Auswirkungen, vor allem in den Entwicklungsländern“, sagt Shahra Razavi, Genderforscherin beim UN-Forschungsprogramm Unrisd. „Die orthodox makroökonomischen Politiken, die sich vor allem darauf konzentriert haben, die Inflation unter Kontrolle zu bekommen und Budgetdefizite zu reduzieren, haben einen sehr hohen Preis gefordert. Wenn etwa Gesundheitssysteme nicht jedem zugänglich sind, wenn man für Ausbildung bezahlen muss, wenn keine neuen Infrastruktur geschaffen wird für gutes Trinkwasser etc., dann hat das sehr negative Auswirkungen auf arme Haushalte und insbesondere auf Frauen, die dann überproportional viel Zeit und Energie aufwenden müssen, um die Familie aufrechtzuerhalten.“
Zwar hat in den internationalen Organisationen inzwischen ein Umdenken der Art begonnen, dass die sozialen Auswirkungen, die der Wirtschaftsliberalismus zeitigt, zunehmend mitbedacht werden, doch die konkrete Umsetzung dieses neuen – noch zaghaften – Ansatzes geht langsam voran.
Um wenigstens das Erreichte zu sichern und Rückschritte zu vermeiden, suchen Frauenorganisationen nun, zehn Jahre nach der Pekinger Frauenkonferenz, nach einem Anker, an dem sie ihre Forderungen festmachen können. Als pragmatische Andockstation bieten sich die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) an, die im Jahr 2000 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden. „Ich glaube, die Umsetzung der MDGs in einer Weise, dass sie Gendergleichheit fördern, ist ein wichtiges Ziel“, sagt Azza Karam vom UN-Entwicklungsprogramm.
Ein weiterer praktischer Vorteil, die MDGs für Frauenbelange zu nutzen, besteht für Karam in ihrer Einklagbarkeit. „Man kann Regierungen für die Einhaltung von Cedaw, der Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen, nicht wirklich zur Rechenschaft ziehen, das führt zu nichts. Es ist etwas ganz anderes, wenn man ihnen sagt: Ihr wart nicht in der Lage, in den letzten Jahre die gesetzten Ziele für Armutsbekämpfung zu erreichen, ihr habt immer noch extreme Armut in euren Gesellschaften. Das ist ein viel machtvolleres Argument.“
Ganz unproblematisch ist das nicht. So lässt sich nicht bei jedem der Entwicklungsziele umstandslos nachweisen, dass sie schneller erreicht werden, wenn die Frauen mehr Rechte haben. Unklar ist auch, wie konkret Vorgaben zur Umsetzung der Gleichstellung der Geschlechter formuliert werden sollen. Soll zum Beispiel Entwicklungshilfe an konkrete Maßnahmen zur gesellschaftlichen Partizipation von Frauen geknüpft werden? Nein, sagen Frauen aus Afrika, bei ihnen werde ein solches Vorgehen als neokolonialistisch angesehen, dadurch bringe man das eigene Projekt in Verruf. Ja, denn ohne eine solche Verknüpfung mit Frauenfragen werde nichts passieren, meint hingegen Massuda Dschalal, die neue Frauenministerin Afghanistans.
Die Millenniums-Entwicklungsziele bilden einen von oben, von den Vereinten Nationen, entwickelten Zielkatalog, der auf nationaler Ebene unterschiedlich umgesetzt werden sollte. Bei der UN-Vollversammlung im September wird es darum gehen, zu analysieren, welche Instrumente in den letzten fünf Jahren bei der Verfolgung der Millenniums-Entwicklungsziele erfolgreich gewesen sind. Die Frauenorganisationen hoffen, dort deutlich machen zu können, dass nachhaltige Entwicklung an Demokratie, an Menschenrechten und damit an Frauenrechten nicht vorbeikommt.
Möglicherweise werden von einer solchen Definition auch die Marokkanerinnen profitieren. Die Islamisten haben nämlich schon aufgerüstet: Sie versuchen jetzt, das neue Familienrecht möglichst eng zu interpretieren und damit das verlorene Terrain wieder wettzumachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen