Die Wiesenburg in Wedding: Ein Asyl für die Kultur
Wo einst Wohnungslose Obdach fanden, wird neu gebaut. Die Wiesenburg soll aber als Gewerbe- und Kulturstandort bestehen bleiben.
„Wir stehen vor dem letzten Jahr Wiesenburg, wie wir sie kennen“, sagt Dirk Feistel, Vorstandsmitglied des Vereins Die Wiesenburg e.V. In den vergangenen Jahren war die Wiesenburg als Kulturstandort samt ihrem dazu gehörigen, knapp 12.000 Quadratmeter großen Gelände in Wedding immer wieder in der Presse. Durch den Besitzerwechsel an die Berliner Wohnungsbaugesellschaft Degewo im Jahr 2014 wurde die Stimmung vor Ort teilweise turbulent.
Besonders schwerwiegend war die Sperrung des Gewerbebereichs des Geländes durch die Degewo im Dezember 2015. Eine Woche lang konnten die Wiesenburger so nicht in ihre Ateliers und Werkstätten.
Inzwischen aber hätte sich die Kommunikation mit der Degewo verbessert, sagt Feistel. In der umstrittenen Planung eines Baus auf dem unbewohnten, südlichen Wiesenburg-Teil konnte man sich im Juli 2017 auf einen siebenstöckigen Neubau mit Ateliers im Erdgeschoss einigen. Die Diskussionen sorgten auch dafür, dass sich der Berliner Senat für die Weiterführung und Erweiterung der Wiesenburg als Gewerbe- und Kulturstandort einsetzt.
Obwohl der Beschluss für den Neubau offiziell ist, bleiben noch Fragen offen. Neben dem Bestandsrecht ist nicht geklärt, wie es mit den bestehenden Mietparteien in den historischen Gemäuern und Gewerbeflächen der Wiesenburg weitergeht und welche Sanierungen durchgeführt werden sollen.
Auf Anfrage führt Jörn Richters, zuständiger Projektleiter der Degewo für die Wiesenburg, aus, dass „die Intensivierung der Bauarbeiten für den Herbst 2018 vorgesehen ist“. Auch die Gespräche mit den Mietern über die Verträge haben bereits begonnen. Richters sagt: „Dabei folgen wir der Zielsetzung, die bestehenden Gewerbe auf der Wiesenburg zu erhalten.“
Die in der Wiesenburg angesiedelten Gewerbe sind ganz unterschiedlicher Natur. Auf dem Gelände vereinen sich Choreografie, Tanz und Lichtdesign des in der Tanzhalle ansässigen Wiesen 55 e.V. mit der Arbeit einer Bildhauerin, eines Malers, eines Tischlers und vielen weiteren Werkstätten. „Das Einzigartige an der Wiesenburg ist, dass hier ein Metallbauer Lärm macht, das Musikstudio nebenan ist, und es trotzdem funktioniert. Es gibt ein Miteinander auf engem Raum, das ungewöhnlich ist – mitten in der Stadt“, sagt Enno Kuck, ein weiteres Vorstandsmitglied des Wiesenburg-Vereins. Kuck ist selbst Musiker und nutzt den Proberaum auf dem Gelände.
Ein Ort des sozialen Engagements
Die Wiesenburg war immer ein Ort der Gemeinschaft und des sozialen Engagements. Das sollte sich nach Meinung der Vorstandsmitglieder auch nicht ändern.
Als die Anlange 1896 eröffnet wurde, dienten die großen Räume Obdachlosen. Bis zu 700 bedürftige Männer konnte der Berliner Asylverein, dem die Gebäude gehörten, darin unterbringen. Schriftsteller wie Erich Kästner oder Kurt Tucholsky betrieben hier Milieustudien und suchten Inspiration für ihre Literatur. Ab 1907, als die Anlage um ein Frauenasyl erweitert wurde, fanden zusätzlich bis zu 400 Frauen und Kinder Obdach auf dem Gelände. Heute ist das Frauenasyl direkt an der Panke eine Ruine. Die Sanierung ist beschlossen, welches Kulturgewerbe dort einziehen soll, ist noch unklar.
Weitere Bekanntheit erlangten die heute denkmalgeschützten Gemäuer der Wiesenburg durch Regisseure wie Fritz Lang, der 1931 dort seinen Film „M“ drehte, oder Volker Schlöndorff, der 1979 das Gelände als Drehort für „Die Blechtrommel“ nutzte.
Diese Dreharbeiten haben Mieter wie Anna und Wolfgang Dumkow bereits erlebt. Seit 1960 wohnen sie auf dem Gelände, durch ihre verwaltende Tätigkeit trugen sie bis 2014 dazu bei, dass die Wiesenburg zu einem Kulturstandort wurde.
Viel Arbeit investiert
Die meisten Wiesenburger wohnen oder arbeiten schon seit Jahrzehnten auf dem Gelände. Dirk Feistel hat zum Gespräch in sein eigenes Musikstudio eingeladen, in dem er seit zehn Jahren sein Geld als Musikproduzent verdient. Viel Arbeit hat er in die Herrichtung der Räume investiert, die Liebe zum Detail fällt in jedem Winkel zwischen den vielen Instrumenten und Verstärkern auf.
Der Wunsch von Feistel und dem Verein der Wiesenburg ist es, dass sein Studio wie auch alle anderen Gewerbe und Ateliers in ihrer jetzigen Funktion weitergeführt werden können, auch wenn jemand ausziehen sollte. „Alle Wiesenburger, die hier leben, streben eine langfristige Nutzung der Räume an – auch über unser Bestehen hinaus. Nach bestimmter Zeit könnte die Wiesenburg als solches, wie sie jetzt ist, gefährdet sein“, sagt Enno Kuck. „Das Gewerbe des Metallbauers soll weitergeführt werden können. Auch wenn das in einer städtischen Umgebung und im Wohngebiet heutzutage aufgrund des Lärms gar nicht mehr möglich ist.“
Sollten die noch zu verhandelnden Mietverträge nach fünf oder zehn Jahren auslaufen, oder an die Kosten angepasst werden, könnte das die Gemeinschaft bedrohen. „Dann sind wir mehr oder weniger alle raus“, sagt Kuck, „und dann kommt doch das Start-up-Büro oder die Anwaltskanzlei hier rein. Das ist auch das, was die Politik nicht möchte.“
Die Politik unterstützt die Wiesenburger. Eine Podiumsdiskussion im September vergangenen Jahres war hochkarätig besetzt. Der Kultursenator Klaus Lederer, die Bausenatorin Katrin Lompscher (beide Die Linke) und Frank Bertermann, stellvertretender Bezirksverordnetenversammlungs-Vorsteher und Sprecher für Stadtentwicklung von den Grünen bildeten mit weiteren im Rahmen des Wiesenburg Festival on Air eine Gesprächsrunde, diskutiert wurde über „Kultur im Spannungsfeld der Stadtentwicklung“.
Die Kategorie des urbanen Gebiets
Dabei brachte Bertermann erstmals ein neues Planungsrecht als Möglichkeit in die Runde ein, das im Prinzip einem sogenannten „urbanem Gebiet“ folgte. Diese neue Baurechtskategorie wurde erst am 31. März 2017 als Gesetz vom Bundesrat gebilligt. Würde die Wiesenburg also zu einem „urbanen Gebiet“ deklariert, wäre es städtebaurechtlich festgelegt, die Wiesenburg und deren Mieter als nutzungsgemischtes Gebiet unter weniger strengen Lärmschutzauflagen zu erhalten.
Die Degewo zeigt sich in dieser Hinsicht auf Nachfrage ablehnend: „Ein ‚urbanes Gebiet‘ stellt die Wiesenburg nach unserer Ansicht weder heute noch in Zukunft dar“, so Jörn Richters. Auch Bausenatorin Lompscher sieht derzeit, wie sie auf taz-Anfrage mitteilte, keine Notwendigkeit für eine solche Deklaration: „Die bislang entwickelten Ziele sind im Rahmen des geltenden Baurechts umsetzbar“, heißt es. Trotzdem „sieht die bisherige Planung vor, den Standort für Wohnungsneubau durch die Degewo zu entwickeln und die soziokulturellen Nutzungen in der Wiesenburg dabei zu sichern“.
Selbst wenn die zwei Vorstandsmitglieder der Wiesenburg mit der Idee des „urbanen Gebiets“ auf Ablehnung stoßen, gibt es für sie Alternativen. „Ein weiterer Weg, den wir sehen, ist, den ganzen Ruinenbereich als eine Genossenschaft zu übernehmen mit einer Politikvorgabe, die verpflichtet, diese Mischung zu behalten und in der Hinsicht auch vor der Degewo verantwortlich zu sein“, sagt Kuck.
Obwohl die Degewo gerade das ablehne, zeigt man sich auf politischer Seite nicht komplett abgeneigt. So teilte Senatorin Lompscher auch mit, dass eine Genossenschaft in Form einer Kooperation der Degewo vorstellbar sei.
Auf Rückendeckung hoffen
Jetzt heißt es für die Wiesenburger, in ihre letzten Verhandlungen zu gehen. „Eine Genossenschaft zu etablieren, in der wir uns um die Einzelvermietung kümmern, traut man uns momentan nicht zu, weil wir mit knapp 30 Mitgliedern ein kleiner Verein sind. Aber mit der bereits angebotenen Hilfe einer anderen Genossenschaft und einer Rückendeckung von der Politik könnte es klappen“, meint Kuck hoffnungsvoll.
Momentan ist viel zu tun. Im August steht das dritte Wiesenburg on Air Festival an. Dieses Mal fördert das Musicboard die Veranstaltung mit 12.500 Euro, mehr als doppelt so viel Geld als im vergangenen Jahr.
Bei dem Kulturfestival soll es auch wieder eine Podiumsdiskussion geben, diesmal in Kooperation mit dem Musicboard. „Die letzte Podiumsdiskussion hat uns getragen, die Wiesenburg wurde zu einem großen Thema in der Politik“, sagt Dirk Feistel. Dieses Jahr soll es bei der Gesprächsrunde um das Thema „Clubsterben in Berlin“ gehen. In den anstehenden Verhandlungen für die Wiesenburg mit der Politik und Degewo sieht Feistel die Chance, vielleicht schon im August zum Festivaltermin exemplarisch zeigen zu können, dass es trotz drohender Schließung durch die Gentrifizierung für viele Clubs im Innenstadtbereich auch anders gehen kann.
Bis 22. Juli bietet man immer sonntags um 15 Uhr Führungen auf dem Gelände der Wiesenburg an. Info: diewiesenburg.berlin/fuehrung/
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