piwik no script img

Bella Fromm ist gereizt

Gerüchte, Legenden und Gewalt: „Die Totengräber“ erzählt anhand von Tagebüchern, Briefen und Akten die letzten zehn Wochen der Weimarer Republik Tag für Tag

Wahl zum Reichstag 1932: Kurt von Schleicher nach dem Verlassen des Wahllokals. Kurze Zeit später erklärt er seinen Rücktritt Foto: Ullstein

Von Rudolf Walther

Das war eine „Phase der gesellschaftlichen Hysterie, der Energie und Angst, der politischen Drohungen, Besserwisserei, Strippenzieherei“. Der windungs- und trickreiche Machtkampf zwischen den Politikern Franz von Papen (Zentrum), Kurt von Schleicher (parteilos) und Adolf Hitler (NSDAP) um die Gunst des Reichspräsidenten und Schiedsrichters Paul von Hindenburg faszinierte die beiden Autoren Rüdiger Barth und Hauke Friedrichs seit ihrer Schulzeit. Motiva­tions­steigernd wirkte auf beide die amerikanische TV-Serie „House of Cards“ – ein Intrigenspiel um Macht, das in ihren Augen vom Kampf zwischen von Papen, von Schleicher, Hitler und von Hindenburg noch überboten wird.

Sie entschlossen sich, den Machtkampf am Ende der Weimarer Republik in Form einer dokumentarischen Collage darzustellen, und vertrauen bei der Darstellung der letzten zehn Wochen der Weimarer Republik auf die annalistisch-chronologische Methode. Sie wollten „die Menschen möglichst selbst zu Wort kommen lassen, wenn irgend möglich in ihre Gedanken hineinschlüpfen, ohne wissende Kommentare der Nachgeborenen. Ein Drama, das sich aus sich selbst, aus dem Moment heraus, erzählt.“

Annalen und Chroniken gehören zu den ältesten geschichtlichen Darstellungsformen. Annalen und Chroniken zeichneten schon in altorientalischen Zeiten in Assyrien und Ägypten (14. Jahrhundert v. Chr.) die wichtigsten Ereignisse eines Jahres auf, meistens im Auftrag der Herrschenden. In der römischen Geschichtsschreibung übernahmen Priester diese dokumentarische Arbeit, im Mittelalter die Mönche in den Klöstern. Im Gegensatz zu den Historien der römischen Geschichtsschreiber (Sallust, Livius, Tacitus), die anspruchsvolle Prosawerke schrieben, blieben römische und mittelalterliche Annalen sprachlich anspruchslose Protokolle von oft geringer Zuverlässigkeit. In der Neuzeit bedient sich die Geschichtswissenschaft der Chroniken wie der Statistiken, Preistabellen und anderer Datensammlungen als Hilfsmittel bei der Geschichtsschreibung.

Vor der Illusion, Geschichte erzähle sich selbst, wenn man sie nur minutiös in chronologische Teile zerlegt, hätte Barth und Friederichs eine schlichte Überlegung bewahren können. Keine noch so genaue Beschreibung des kalendarischen Nacheinanders stiftet kausale Sinnzusammenhänge. Historische Konstellationen, Machtbeziehungen und politische Entscheidungen sind viel komplexer strukturiert, als dass sie aus dem zeitlichen Nacheinander sinnvoll dargestellt oder gar erklärt werden könnten.

Rüdiger Barth und Hauke Friederichs: „Die Toten­gräber“. S. Fischer, Frankfurt/M. 2018, 416 S., 24 Euro

Barth und Friedrichs beginnen ihre chronologische Collage mit dem 17. November 1932 und beenden sie mit dem 30. Januar 1933 – also die Zeit zwischen dem Rücktritt Franz von Papens als Reichskanzler und der Ernennung Adolf Hitlers zum neuen und letzten Reichskanzler. Von Papens Rücktritt – aber das gibt eine reine Chronologie eben nicht her – war eine Folge des Wahlresultats vom 6. November 1932: Hitlers NSDAP verlor dabei 2 Millionen Stimmen, die SPD rund 700 000. Damit war weder eine rechte (mit der NSDAP) noch eine linke Koalition (ohne die KPD) mehrheitsfähig. Der Reichspräsident Paul von Hindenburg wünschte sich deshalb eine überparteiliche Regierung der „nationalen Konzentration“.

Der taktisch geschickt agierende General von Schleicher verhandelte mit den Gewerkschaften und der SPD über die Tolerierung einer Minderheitsregierung, falls diese als Gegenleistung eine Arbeitsbeschaffungsoffensive lanciere. Von Schleicher bat den Reichspräsidenten um Sondervollmachten und prophezeite einen Bürgerkrieg und die Spaltung der Reichswehr, falls von Hindenburg seinen rechtskonservativen Rivalen von Papen mit der Regierungsbildung beauftrage. Hitlers NSDAP war nicht nur in Finanznöten, sondern auch gespalten zwischen dem regierungs- und koalitionsbereiten Flügel um Gregor Strasser und den Getreuen um Hitler, die nur nach der Macht greifen wollten und eine Koalition ablehnten.

Je länger das politische Gerangel dauerte, desto mehr vergifteten Gerüchte und Legenden, aber auch Gewalt den Machtkampf, in dem verfassungsmäßige Lösungen immer unwahrscheinlicher wurden. Schleicher konnte wählen zwischen drei verfassungswidrigen Optionen: den Reichstag erneut auflösen und dann über die 60-Tage-Frist hinaus verfassungswidrig weiterregieren, den Reichstag auf unbestimmte Zeit vertagen und einen Misstrauensantrag ignorieren, aber damit einen Generalstreik beziehungsweise Bürgerkrieg riskieren.

Der Machtkampf der Weimarer Republik dargestellt in einer dokumentarischen Collage

Der Reichspräsident beendete das parteipolitische Intrigenspiel, indem er von Schleicher, von dem er einen Militärputsch befürchtete, entließ und einen neuen Wehrminister berief – wozu er von der Verfassung her gar nicht befugt war. Von Papen fädelte eine Regierungsbildung durch Hitler ein in der Hoffnung, diesen „in zwei Monaten in die Ecke“ zu drücken, „bis es quietscht.“ Von Hindenburg resignierte und ließ die Totengräber der Verfassung – von Papen, Hitler, Goeb­bels und Hugenberg – gewähren: „Und nun, meine Herren, vorwärts mit Gott!“

Barth und Friedrichs dokumentieren diese Vorgänge im Detail, wenn auch ziemlich zusammenhangslos – entlang seriöser historischer Darstellungen und Quellen, aber leider häufiger anhand der Tagebücher von Goebbels, des amerikanischen Gewerkschafters Abraham Plotkin und der deutschen Klatschkolumnistin Bella Fromm. Diese Mixtur trägt zu historischer Aufklärung wenig bei. Da mischen sich Fußballergebnisse mit Phrasen, die sich nicht dem Drama des wirklichen Geschehens verdanken, sondern dem „Hineinschlüpfen“ der Autoren in „Gefühlslagen“: „Jetzt ist Bella Fromm wirklich gereizt“ und „einen Hummer zu zerlegen, erfordert einiges an Konzentration.“

Auf „Kommentare der Nachgeborenen“ wollten die Autoren zwar verzichten, fügen aber Allerweltsätze ins Protokoll ein: „Ein informativer Schwatz kann nie schaden.“ „Thälmann ist ein Mann, der immerzu diskutiert.“ „Das ungewohnte Gefühl der Macht durchströmt“ Hitler und Goebbels am 30. Januar 1933. Die „dokumentarische Montage“ kippt ins ordinär Kitschige.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen