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Nirgendwo Stolz

Wer sich in Bremerhaven auf die Suche nach Spuren des Norddeutschen Lloyd macht, muss genau hinsehen. In Erinnerung ruft dessen Geschichte nun ein Theaterprojekt

Blick auf verblassende Erinnerungen: Die fetten Jahre sind in Bremerhaven vorbei Foto: Manja Hermann

Von Jens Fischer

Fulminanter Bevölkerungsanstieg, rasanter wirtschaftlicher Aufstieg und der jähe Fall zur Arbeitslosen- und Armutsmetropole. In Bremerhaven sind diese Prozesse unmittelbar verknüpft mit der Geschichte des Norddeutschen Lloyd (NDL) – was bei der nachgewachsenen Generation nicht mehr sonderlich präsent ist. Ändern soll sich das nun im Theater. „Sterne schießen“ heißt Anne Jelena Schultes Rechercheprojekt, für das sich ehemalige Mitarbeiter*innen voller Ehrfurcht an glorreiche Zeiten erinnerten: Gottes eigene Reederei wurde der NDL einst genannt.

1857 in Bremen als Handelsschifffahrtsunternehmen gegründet, von Bremerhaven aus bald aber auch im Schiff- wie Maschinenbau aktiv sowie als Fährdienstleiter nach Helgoland, Wangerooge und Norderney. Die Reichspostdampferlinien nach Australien und Ostasien wurden übernommen, auf den Atlantikrouten stieg der NDL ins Auswandererbusiness ein, machte aber schnell mehr Geld mit Kreuzfahrttourismus – und war vor Ort Monopolist in diesen Geschäftsbereichen.

Die an der Geestemündung entwickelte Stadt war 30 Jahre nach ihrer Gründung die Heimat eines Global Players, der dank schneller und luxuriöser Passagierdampfer zum Symbol für Reichtum, Fernweh und Abenteuer wurde. „In der Kaiserzeit und zwischen den Weltkriegen war beim NDL die Hälfte aller Bremerhavener Arbeitsplätze angesiedelt, ein weiteres Viertel bei der Zulieferindustrie“, erklärt die Chefin des Deutschen Auswandererhauses, Simone Eick.

„Das Unternehmen hatte hier eine Bedeutung wie VW heute noch für Wolfsburg“, ergänzt die wissenschaftliche Referentin des Historischen Museums, Kerstin Ras-Dürschner. Und so benahm sich der NDL auch: Wenn Bremen seine In­frastrukturwünsche nicht erfüllen wollte, drohten die Chefs mit Wegzug, verlegten etwa 1890 ihre Aktivitäten auf die andere Weserseite und sorgten so für die „sieben fetten Jahre in Nordenham“. Dann wurde die Kaiserschleuse gebaut und der Hafen erweitert.

Und der NDL wuchs, wuchs und wuchs. Bremerhaven wähnte sich als Lloydstadt eher wie ein Vorort New Yorks, denn als Anhängsel Bremens. Aber 1970 fusionierte NDL mit der Hapag, woraufhin fast alle Aktivitäten nach Hamburg verlagert wurden. Der Anfang vom Ende. Kurz darauf folgten der Niedergang der Fischerei und das Werftensterben. Wer heute die zum Hafen führende Lloydstraße entlangbummelt, entdeckt keinen Prachtboulevard als architektonisch prunkende Erinnerungsmeile, sondern eine breite Ausfallstraße, die mit ihren Leerständen und schmuddeligen Billigheimern keine Ahnung des einstigen Glanzes vermittelt.

Spurensuche: An der Alten Geestebrücke ist ein NDL-Schiff mit den Logo-Zutaten abgebildet: Bremer Schlüssel und Anker. Ja, auch die Lloydwerft ist als Unternehmen für Schiffsreparatur- und Schiffsverlängerung noch am Leben, gehört inzwischen Genting Hong Kong und hat seine Verwaltung in die ehemalige NDL-Wäscherei einquartiert, ein eher unscheinbarer Backsteinbau. Die NDL-Proviant- und Lagerhalle am Kopf des Alten Hafens ist ebenfalls prima renoviert, für touristische Zwecke auch das Café „Lloyds“ angebaut.

Aber einen Hinweis auf die ehemalige Nutzung sucht man vergeblich. Nirgendwo Stolz auf die NDL-Zeiten. Sein Ableben hinterließ Leere – eine Mischung aus Trauer, Nicht-Abschied-nehmen-Wollen, Wut und sehnsüchtiger Hoffnung hat Autorin Schulte ausgemacht.

Auch im Historischen Museum muss der NDL gesucht werden. Klar, Schiffsmodelle gibt es und Bilder der zu Kathedralen stilisierten, erst im historistischen, später im Neuen Sachlichkeits-Stil erbauten Wartehallen für die Reisenden. In miniaturwunderlandigen Landschaften sind sie sogar in 3-D zu sehen. Aber die Parallelisierung von Stadt- und Firmengeschichte wird nicht groß fokussiert. Nur eine Wandvitrine mit Souvenirs ausgestellt: Gepäckaufkleber, Zigarrenkiste, Post- und Speisekarten.

Recht ähnlich präsentiert das gerade im Um- und Aufbruch befindliche Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) den NDL. Wieder Schiffsmodelle und ein paar Souvenirs: Silberbesteck und Mokka-Service der 1. Klasse neben einem Essgeschirr der 3. Klasse. Dazu Macht demons­trierende Ölschinken und weiterer Ausstattungsprunk. Auch in der Bibliothek machen die NDL-Publikationen nur einen halben der 2.000 Regalmeter aus. „Wir sind ja auch nicht das Bremerhavener, sondern Deutsche Schifffahrtsmuseum“, erklärt Bibliothekar Simon Kursawe. Zudem seien die NDL-Archive nach Hamburg gegangen und nur wenige Objekte als Leihgabe zurückgekommen.

Das Auswandererhaus versucht als Erlebnismuseum immerhin einen Eindruck vom Leben unter Deck in nachgebauten NDL-3.-Klasse-Kojen zu vermitteln. Durch Gucklöcher ist ein Blick an Deck der 1. Klasse zu erhaschen. Wieder werden Speisekarten, Geschirr und Wartehallen-Bilder ausgestellt. Im Shop sind NDL-Werbeplakate als Metallschilder zu erwerben.

Das Ableben des Norddeutschen Lloyd hinterließ Trauer, Wut und sehnsuchtsvolle Hoffnung

Auch im Theater-Foyer ist nun weiterer NDL-Tüdel zu besichtigen: Aschenbecher, Reisetruhe, Pinkelpott, Teetässchen. Uniformen hängen, ein Maschinentelegraf steht herum. Ein Heuerschein weist den Besitzer als „Oberaufwäscher“ aus. Alles Fundstücke aus den Wohnungen der NDL-Ehemaligen, die Schulte getroffen hat. Liebevoll gepflegte kleine Museen seien das teilweise, sagt sie.

Kennengelernt hat Schulte ihre Gesprächspartner an Stammtischen. „Die Kapitäne und Offiziere treffen sich in Bremen, die andern streng getrennt nach ihren Berufen in Bremerhaven.“ Zur inneren Hie­rarchie kommt die Städtefeindschaft. „Die Kapitäne sind tot oder in Bremen, wo sie hingehören, die Dickbäuchigen“, heißt es im Stück, „von Bremerhaven hat der Lloyd sich seine Arbeitsgäule geholt, die mit dem kleineren Lohn.“ Die O-Töne von 20 Zeitzeugen hat Schulte zu acht Figuren verdichtet, die ihr Leben erzählen, chronologisch von der Nachkriegszeit bis heute, wo sie als Kartenabreißer im DSM arbeiten, Hausmeister oder Rentner sind.

Nachdem der Lloyd den Wandel von der Segel- zur Dampfschifffahrt und vom Auswanderer- zum Pauschaltourismusgeschäft erfolgreich bewältigt habe, scheiterte er an der Umstellung auf Containertransporte, so Regisseur Ulrich Mo­krusch: „Schlicht verpennt. Deswegen ist das für mich eine Geschichte der Globalisierung mit Parallelen etwa zu Verlagen, die die Digitalisierung verschlafen haben.“

Auch die Hybris möchte er herausarbeiten: NDL-Mitarbeiter hielten sich für eine Elite, die Kapitäne mindestens für Gott und die Chefs für unfehlbar. Filterblase wird das heute genannt. „Ich suche die Geschichte hinter der Geschichte. Sehe den Lloyd als Beispiel, wie Wirtschaftswunder-Deutschland und Kapitalismus funktionieren. Bei den Interviews aber stellte ich fest, dass Mitarbeiter das System NDL nie infrage gestellt haben.“ Mokrusch: „In Bremerhaven war und ist der NDL total positiv konnotiert.“ Selbst als mit „kaufmännischer Sachlichkeit“ das Ende verkündet wurde: keine Empörung. Auf der Bühne zu hören ist, von 10.050 Seeleuten bei Hapag und Lloyd blieben 4.195. Zumeist in Hamburg. „Sterne schießen“ will dem NDL kein Denkmal setzen – die Verehrung soll lebendig werden und Fragen provozieren.

Sa, 19. 5., 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven. Weitere Aufführungen: 26. 5.; 1., 3. + 7. 6.

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