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Die Erfindung einer neuen Dichtungsart

Wiederentdeckung: Ernst Dronke, ein zeitweiliger Bundesgenosse von Marx und Engels, liefert mit seinen „Polizei-Geschichten“ frühe Beispiele eines literarischen Journalismus mit sozialkritischem Anstrich

Das Leid vor Augen führen: Arme Frauen und Mädchen suchen auf den Schutthalden von Berlin nach Metall – Stich um 1830 Foto: Abbildung: Archiv Gerstenberg/Ullstein Bild

Von Frank Schäfer

Ernst Dronke stammt aus einem bildungsbürgerlichem Elternhaus und lässt sich während seines Studiums Anfang der 1840er Jahre anfixen vom „Wahren Sozialismus“. Die Anhänger dieser Theorie glauben, das soziale Elend der beginnenden Industriegesellschaft verringern und dadurch eine gewalttätige proletarische Revolution verhindern zu können, indem sie dem Bürgertum eindringlich und ungeschönt das Leid der anderen vor Augen führen und an sein Mitleid appellieren. Die entsprechenden Reformen folgen dann schon auf dem Fuß.

Marx und Engels haben diesen bürgerlich-idealistischen Sozialismus im „Kommunistischen Manifest“ als „Gewand, gewirkt aus spekulativem Spinnweb, überstickt mit schöngeistigen Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütstau“ sehr hübsch des­avouiert, sein späteres Fortleben in der Sozialdemokratie konnten sie dennoch nicht verhindern. Auch in der Literatur und im Journalismus hat er einige Spuren hinterlassen.

Im Gefolge des „Wahren Sozia­lismus“ entsteht eine sozialkritische Literatur, die sich durch ihre realistische Härte bewusst absetzt von der gerade geläufigen Mode des Feuilletonromans, der nach dem Vorbild von Eugène Sues „Geheimnissen von Paris“ die Absteigen und Gossen der wachsenden Großstädte als verrucht-exotische Abenteuerschauplätze nutzt. Es erscheinen Bücher wie Ernst Willkomms Fabrikarbeiterroman „Weiße Sklaven“ (1845), Wilhelm Wolffs Armenhausreportage „Die Kasematten“ (1843) oder Ernst Dronkes ätzende Großstadtdokumentation „Berlin“ (1846), die ihm wegen Majestätsbeleidigung und ungehöriger Kritik am Polizeipräsidenten und an den Landesgesetzen zwei Jahre Festungshaft einbringt.

Aber bald darauf ist Revolution in Deutschland. Dronke kann nach Brüssel, später nach Paris fliehen, macht Bekanntschaft mit Engels und schließlich auch mit Marx. Er schließt sich den Kommunisten an, kehrt mit ihnen nach Köln zurück und arbeitet eine Weile für die wichtigste Agitationsplattform der Linken, die Neue Rheinische Zeitung.Aber sein publizistischer Kampf währt nicht lange, Dronke wird verfolgt, muss 1849 in die Schweiz emigrieren, später dann nach England, wo er sich bald aus dem politischen Geschäft zurückzieht und dafür von Marx und Engels als Kleinbürger geschmäht wird.

Seine produktivste Zeit sind die Jahre vor der Märzrevolution, 1846 erscheinen neben dem zweibändigen „Berlin“-Report vier weitere Bücher, da­run­ter die jetzt erneut bei Walde + Graf wiederaufgelegten „Polizei-Geschichten“, die sogar Friedrich Engels bei aller Kritik an Dronkes moralinsaurer Weinerlichkeit halbwegs wohlwollend aufnahm. „Herr Ernst Dronke hat sich durch die Erfindung einer neuen Dichtungsart dauernde Verdienste um die deutsche Literatur erworben“, schreibt Engels in seinem unvollendeten Essay „Die wahren Sozialisten“. Dronke habe darin die „ringelnde Riesenschlange der Polizeigesetzgebung“ zu einer „Reihe der interessantesten Novellen“ verarbeitet. „In jedem Paragraphen steckt ein Roman, in jedem Reglement eine Tragödie. Herr Dronke, der als Berliner Literat selbst gewaltige Kämpfe mit dem Polizeipräsidio bestanden, konnte hier aus eigner Erfahrung sprechen.“

Der untröstliche Verbrecher wider Willen erhängt sich in seiner Zelle, seine Frau geht ins Wasser

Tatsächlich hat Dronke diese frühen True-Crime-Storys in Korrespondenzblättern recherchiert oder sich erzählen lassen, jedenfalls gibt er immer wieder kleine lektüreleitende Hinweise, die klarmachen sollen, dass sie keine Fiktion sind. „Diese Blätter haben eine ,Tendenz‘ zu Grunde: die der Wahrheit“, schreibt er in der programmatischen Vorrede zur Erzählsammlung „Aus dem Volk“, die auch vor den „Polizei-Geschichten“ stehen könnte. „Ich habe diese Novellen nicht geschrieben, um ,Novellen zu schreiben‘: ich geize nicht nach der Ehre ,Belletrist‘ zu sein.“ Er habe seinen Stoff „nur deshalb in das Gewand der Novelle gekleidet, weil in dieser Form der Nachzeichnung des wirklichen Lebens die Wahrheit jener Verhältnisse am deutlichsten und sprechendsten vor die Augen tritt und dadurch weiter als abstrakte Abhandlungen wirkt.“

Das ist eine frühe Poetik des literarischen Journalismus. Die Wahrheit muss ans Tageslicht, aber damit sie dort auch richtig funkelt, braucht der Reporter die Kunst als Mittel zum Zweck. In den besten Geschichten dieses Bandes weiß Dronke dieses Mittel nicht uneben zu handhaben.

In „Armuth und Verbrechen“ etwa schildert er den quälend langsamen Abstieg des Tischlergesellen Fritz Schenk, der von einem Unfall bleibende körperliche Schäden zurückbehält, arbeitslos wird und schließlich nach verschiedenen Versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, einen Überfall begeht, weil er Frau und Kind anders nicht mehr ernähren kann. Perfiderweise stiftet ihn ein Polizeispitzel zu der Tat an. Dronkes sanft-melancholischer Ton ist das adäquate Medium für die tragische Unvermeidlichkeit dieser Geschichte. Nah an der Sozialreportage pinselt er das bittere Schicksal der Familie in düsteren Farben aus. Am Ende geht Schenks Frau mit ihrem Kind ins Wasser, und der untröstliche Verbrecher wider Willen erhängt sich in seiner Zelle.

Immerhin gibt der Autor dem Unglücksraben zuvor noch Gelegenheit, seinen Groll auf Gott und die Welt mit „wilder Bitterkeit“ auszuspucken. „Wie im Himmel sieht’s bei uns aus“, spricht der arme Schenk, „wir essen nicht und trinken nicht. Es ist ein herrliches Leben, man genießt die ganze Schöpfung, man hört die Vögel singen, man hat im Sommer die schöne Natur, im Winter das prächtige Eis, und braucht für Alles das gar nichts zu bezahlen. Ich erinnere mich, dass der Pfaffe mir früher sagte, es sei eine Gnade Gottes, daß wir geschaffen würden und leben dürften. Ich wollte das lange nicht einsehen, aber es ist doch wahr, es liegt nur an dem Einzelnen selbst, wenn er das Leben verkümmert. Das Leben ist doch umsonst, wozu sich da plagen und Sorgen machen? Es kömmt am Ende doch auf Eins heraus, ob man auf seidenen Kissen oder allmählig Hungers gestorben ist.“

Ernst Dronke Foto: Walde+Graf

Bigotte Sexualmoral

Mindestens so scharf ist Dronkes Erzählung „Die Sünderin“. Ein Dienstmädchen bekommt ein uneheliches Kind, findet danach keine ehrbare Anstellung mehr und wird schließlich zur Prostitution gezwungen. Dronke schreibt an gegen die bigotte bürgerliche Sexual­moral einer Gesellschaft, die eine „siebzehnjährige, verlassene Mutter“ aus ihrer Mitte verstößt, und nicht zuletzt gegen einen Staat, der den Armen karitative Unterstützung fast gänzlich versagt. Gemeinsam treiben sie die vermeintliche Sünderin schließlich in den Tod. „Für der Art Leute ist der Tod das Beste“, kommentiert ein stumpfer Leichenwärter am Ende die Tragödie, „denn im Leben nimmt sich Keiner ihrer an, und solch Leben, – nun, sie hat’s auch selbst wohl eingesehen!“

Nicht alle Geschichten haben diese zumindest wirkungsästhetische Qualität. Einige zeigen eine behagliche Teerunde, in der die intellektuelle Elite ganz unter sich – „überstickt mit schöngeistigen Redeblumen“, wie gesagt – über Polizeiwillkür und allerlei Repressalien der Behörden räsoniert. Hier zeigt sich deutlich, wen Dronke als Adressaten seiner „Novellen“ vor allem im Auge hat – nicht die proletarischen Massen, um sie zum revolutionären Kampf zu ermuntern, sondern das aufgeklärte Bürgertum. Ihm soll die Aufgabe zukommen, das Staatswesen wie auch immer zu einem „harmonisch organisirten Ganzen“ umzumodeln, sodass ein Kampf letztlich überflüssig wird. Dronke hat bald selbst nicht mehr dran geglaubt.

Ernst Dronke: „Polizei-­Geschichten“. Walde + Graf, Berlin 2018, 192 Seiten, 18 Euro

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