Portrait Peter Tschentscher: Der Spurensucher
Hamburgs neuer Bürgermeister ist ein leiser Moderator, der wieder demokratischer regieren und mehr zuhören will als Olaf Scholz. Aber das sagt er natürlich nicht so explizit.
Womit sie natürlich nichts gegen seinen Vorgänger Olaf Scholz (SPD) gesagt haben wollen. Trotzdem möchten sie noch erzählen, dass Tschentscher vor Amtsantritt eigentlich nicht im Bürgermeisterzimmer empfangen wollte, sondern lieber im kleinen Kabuff nebenan. Aber das war grad nicht frei. Und da die Medien ihre Interviews nun mal vorm Wahltag führen wollen, „tun wir jetzt mal so, als ob“, sagt Tschentscher lächelnd beim Reinkommen.
Freundlich, verbindlich, professionell: Tschentscher, geboren in Bremen und aufgewachsen in Oldenburg als Zweitältester von vier Brüdern, ist einer, der kein Aufhebens macht, sich aber auch nicht wegbeißen lässt. Der gelernte Arzt, seit 2011 als Hamburger Finanzsenator tätig, hat die neue Rolle akzeptiert und sieht sich vor allem als Diener der Allgemeinheit.
Folglich spricht er nur auf ausdrückliche Nachfrage über sich selbst und ansonsten lieber von der SPD und ihren 12.000 Hamburger Mitgliedern. Mit ihnen will er reden, sie alle wohnen ja in der Stadt und kennen deren Probleme. Akribisch und entschlossen zählt der 52-Jährige alle Gremien auf, mit denen er sprechen will.
Immer wieder betont er, dass man zuhören, Anregungen aufnehmen und andere Sichtweisen akzeptieren müsse, und man spürt: Da grenzt sich jemand vom autoritären Führungsstil Olaf Scholz’ab, dessen Spruch „wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“ inzwischen legendär ist.
Und auch wenn Tschentscher nach außen solidarisch bleibt und betont, beim G20-Gipfel seien „keine vorhersehbar falschen Entscheidungen“ getroffen worden: Mindestens genauso lange spricht er davon, dass er das Vertrauen in die Politik wieder herstellen und „die Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem G20-Gipfel bei allen künftigen Entscheidungen berücksichtigen werde“.
Und wer weiß, vielleicht hätte ein Bürgermeister Tschentscher sogar im Vorfeld von G20 Bewohner des Schanzenviertels gefragt und die Sache dann abgeblasen. Jedenfalls ist er bereit, Konflikte nicht zuzudecken, sondern zu moderieren.
Das soll kein Plädoyer für eine neue Langsamkeit und fruchtlose Debatten sein. Wohl aber für durchdachte politische Entscheidungen, „bei denen die Menschen sicher sein können, dass man ihre Sichtweisen kennt“. Irgendwann müsse man dann natürlich entscheiden, „und Führung ist ja an sich nichts Schlechtes“, sagt Tschentscher. Es klingt ein bisschen theoretisch. Hier spricht kein Machtmensch, sondern ein Wissenschaftler, der die neue Rolle erst mal analysiert wie eine fremde Tierart und dann anfängt, mit ihr warmzuwerden.
Dazu wird er genug Gelegenheit haben, wenn es zum Beispiel ans Bauen geht. „In anderen Großstädten sind schon heute die Mieten deutlich höher als in Hamburg“, sagt er. „Wir wollen weiterhin über 10.000 Baugenehmigungen pro Jahr erteilen und dafür sorgen, dass ein größerer Teil davon günstige Mieten hat.“
Jährlich 2.000 Sozialwohnungen
Deshalb solle die städtische Wohnungsbaugesellschaft SAGA in Zukunft jährlich 2.000 Sozialwohnungen bauen, doppelt so viele wie bisher. „Insgesamt schaffen wir über 3.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr.“ Ob so aber mehr neue Wohnungen entstehen, als aus der Preisbindung herausfallen, bezweifeln manche.
Allerdings will der neue Bürgermeister für diejenigen, die knapp oberhalb der Einkommensgrenze für Sozialwohnungen liegen, durch preisreduzierte Grundstücke und effizientes Bauen Wohnungen anbieten, deren Mieten nur rund acht Euro pro Quadratmeter betragen.
Tschentscher hat sich das gut überlegt und sucht Optimismus zu verströmen – eine schwierige Aufgabe für einen eher introvertierten Menschen, und man weiß nicht recht, ob er das wirklich spürt. Aber für Tschentscher ist Optimismus eben kein Bauchgefühl, sondern Ergebnis einer Analyse. Wenn die eine realistische Lösung ergibt, besteht objektiv Grund zur Zuversicht.
Zwei Stunden Klavier pro Tag
Richtig fröhlich wird Tschentscher allerdings erst, als er über Musik reden darf. Bis zu zwei Stunden täglich hat er von der Grundschule bis zum Abitur Klavier gespielt – Bach, Mozart, Beethoven, Strauß-Walzer, schwere Stücke. Und er hat es genossen, mit seinen drei Brüdern zusammen zu musizieren; die anderen drei singen bis heute im Chor.
Das Klavierspiel bedeutet ihm viel, denn Musik und Gemütszustand – das harmoniere miteinander, findet er. Überhaupt sei Musik etwas, womit man sich selbst in Ausgleich bringen könne, friedlich werden.
Heute allerdings spielt er nur noch selten, auch der Wohnungsnachbarn wegen. Aber wenn, dann ist die Wirkung sofort wieder da. Und natürlich hört er gern, wenn andere spielen; Klavierkonzerte besucht er besonders gern. Er lächelt, und man spürt, wie er sich freut, wenn er einen virtuosen Pianisten erleben darf. Denn klar, wer ein Instrument spielt, kann die Leistung eines anderen besonders gut würdigen.
Labormedizin am UKE
„Und deshalb“, sagt er und schwingt wieder ins Politische, „wollen wir, dass alle Hamburger Kinder und Jugendlichen durch die Elbphilharmonie die Welt der Musik kennenlernen und sich dafür begeistern können“.
Dass das Konzerthaus trotzdem zu teuer war, weiß er natürlich auch. Schließlich hat Tschentscher als Vorsitzender des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Elbphilharmonie recherchiert und benannt, wie systematisch der Senat damals Verantwortung delegierte.
Solch detektivische Spurensuche gefällt Tschentscher. Schon als Labormediziner am Universitätskrankenhaus in Hamburg-Eppendorf hat er gern analysiert, „denn was gleich aussieht, kann verschiedene Ursachen haben“, sagt er.
Faible für historische Krimis
Untersuchung, Diagnose, Therapie. „Der bekannte Pathologe Rudolf Virchow hat gesagt: Politik ist weiter Nichts.“ Das findet Tschentscher auch: Genaues Hinschauen ist wichtig, Differenzierung.
Das Wort „Spurensucher“ gefällt ihm, da fühlt er sich verstanden. Das passt auch zu seinem Faible für historische Krimis, die ja nicht nur eine Blutspur legen, sondern auch Fährten in die Vergangenheit.
Wenn man ihn fragt, ob er auch privat gern Wurzeln suche, fängt er an, die Geschichte von dem Schwarzweiß-Foto zu erzählen, das sein Vater im Zweiten Weltkrieg von der Flucht aus dem heute polnischen Masuren mitbrachte. Tschentschers Vater war Holzhändler, der Großvater besaß östlich von Danzig ein Sägewerk und ein Wohnhaus, „und davon gab es bei uns zuhause Fotos“. Aber für ihn und seine Brüder sei das immer weit weg gewesen, „das hatte mit uns nichts zu tun“.
Aber vor ein paar Jahren ist er mit seiner aus Polen stammenden Ehefrau mal hingefahren. „Und es war wie die alten Fotos, nur in Farbe“, sagt er und staunt immer noch. „Ich wusste plötzlich: Hier muss ein See sein, der Bahnübergang, das Sägewerk.“ Sogar das alte Wohnhaus stand noch, und gern hätte er mal reingelugt. „Aber ich habe nur um die Ecke geguckt, man will die Menschen ja nicht stören.“
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