: Lebemann, Triathlet, Erleuchteter
Mit „Disco Club“ gelang es dem großartigen brasilianischen Soul-Crooner Tim Maia 1978, auf die Nightlife-Welle aufzuspringen. Das britische Label Mr Bongo veröffentlicht das Album jetzt erneut
Von Ole Schulz
Zu fetten Slap-Bässen schmettert der brasilianische Künstler Tim Maia mit seiner voluminösen Stimme den Zuhörern entgegen: „Belästige mich nicht, siehst du nicht, dass ich nicht in Stimmung bin?“ Denn „o que eu quero é o sossego“ – das Einzige, was er sich wünsche, sei Ruhe. Was der Heavy-Funk-Song „Sossego“ allerdings bewirkte, war das Gegenteil: Wurde das Lied von Maias Album „Disco Club“ auf Partys aufgelegt, ging es auf der Tanzfläche erst so richtig ab.
Es war das Jahr 1978, und die Disco-Welle schwappte nach Rio de Janeiro. Und Tim Maia, der eigentlich als großartiger Soul-Crooner Brasiliens bekannt geworden war, gelang es, auf den Zug aufzuspringen. Das britische Label Mr Bongo legt „Disco Club“ nun wieder neu auf. Schon der Auftaktsong zeigt, dass das eine gute Entscheidung war: Im Disco-Dancefloor-Burner „A fim de voltar“ singt Maia leidenschaftlich über eine verflossene Liebe – und die Unmöglichkeit, wieder zusammenzukommen. Gleich danach folgt, erneut zu prägnanten Bläser- und Streicherarrangements, die Mitsing-Hymne „Acenda o farol“.
Tim Maia war zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung pleite (dieses Mal so richtig) und hatte gerade ein Karrieretief hinter sich. Aufgewachsen in Rios proletarischer Nordzone, hatte er nach einigen Jahren in den USA ab 1970 bei Polydor vier bahnbrechende Alben veröffentlicht (Tim Maia I–IV), die den US-amerikanischen Soul mit Stilen wie Baião und Samba mischten – und damit der politisch wichtigen „Black Rio“-Bewegung den Weg ebneten.
Dann schwor er Alkohol, Drogen und jeglichen fleischlichen Gelüsten ab, als er 1974 einem obskuren Kult beitrat. Dieser wähnte sich im Wissen einer „Cultura Racional“ und wartete auf UFOs, die die Auserwählten zurück auf den früheren Heimatplaneten transportieren sollten. Es entstanden mit „Racional Vol. 1“ und „Vol. 2“ die beiden vielleicht besten Alben Tim Maias, auf denen er hingebungsvoll die Lehre aus dem ominösen Buch „Entzaubertes Universum“ besang.
Auf dem Weg zur Erleuchtung
Kommerziell waren die Alben jedoch ein Fiasko. Nach nur einem guten Jahr brach Maia mit der Sekte – und verfiel wieder in seine alten Gewohnheiten: Der füllige Tim Maia war ein Lebemann wie aus dem Bilderbuch – maßlos und unersättlich, zunehmend aufgedunsen und im Umgang mit anderen oft großkotzig –, hatte zugleich aber auch etwas eigentümlich Sanftes an sich.
Dass er sich irgendwo zwischen Genie und Größenwahn bewegte, lässt sich auch auf „Disco Club“ erahnen: So heißt es in „All I want“ zwar, alles, was er wolle, sei „to be happy“. Vorher aber hatte er schon gesungen: „All I want is to be with the best.“ Ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hatte Tim Maia auch: Bereits bevor er seine Mitmenschen zum Eintritt in die Sekte der „Rationalen Kultur“ zu überreden versuchte, hatte er etwa die Mitarbeiter seiner damaligen Plattenfirma Philips (Maia sprach immer nur von „Flips“) zur Erleuchtung bewegen wollen: Von einer Reise aus England war er mit 200 Trips zurückgekehrt, mit denen er nun von Schreibtisch zu Schreibtisch seines Labels zog, um die befreiende Wirkung von LSD anzupreisen.
Allerdings sollte nicht verschwiegen werden: Mit der Partystimmung ist es auf „Disco Club“ ab dem Song „Murmúrio“ schlagartig vorbei. Die zweite Hälfte des Albums ist insgesamt viel ruhiger, die Streicherarrangements sind regelrecht triefend schmalzig. Erst mit „Juras“ und seinem betörenden Frauenchor nimmt das Werk wieder Fahrt auf. Zum Ende gibt es dann mit dem beschwingten „Jhony“ einen Song, der mit einer naiven Unschuld, wie sie heute kaum mehr möglich ist, die unbändige Freude eines Jungen am „jogar bola“ beschreibt, am Fußballspielen.
Marihuana, Schnaps, Koks
Mit „Disco Club“ war Tim Maia aus der Versenkung ins Rampenlicht zurückgekehrt. Für ihn persönlich hatte der neue Sound aus den USA noch andere Folgen. Denn mit ihm zogen Wodka und Kokain ins Nachtleben Rios ein. Tim Maia konnte dem nicht widerstehen, und es entwickelte sich daraus die spezielle „Triathlon“-Mischung, die er fast täglich zu sich nahm: Marihuana, Schnaps und Koks. Mit dem ihm eigenen Humor hat Maia dazu einmal gesagt: „Ich trinke, schnupfe und rauche nicht, nur lügen tue ich ein bisschen.“
20 Jahre nach dem Erscheinen von „Disco Club“ erlitt Tim Maia auf der Bühne einen Herzinfarkt, dem er wenige Tage später mit nur 55 Jahren erlag. Im Nachhinein scheint es, Maia habe mit seinem Downtempo-Groover „Nobody can live forever“ von 1976 bereits tröstliche Worte für sein eigenes Ableben gefunden: „There’s no god, there’s no heaven, there’s no devil, there’s no hell … Don’t you worry, play your music.“
Tim Maia: „Disco Club“ (Mr Bongo/Harmonia Mundi)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen