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Echt müde sind ihre Gesichter

Heidi Specker ist eine der ersten Fotografinnen, die Digitalfotografie als Kunstmedium ernst genommen haben. Das Kunstmuseum Bonn zeigt jetzt eine Überblicksschau mit 70 Werken

Magischer Realismus: Heidi Specker, „Re-Prise, Pfütze“ (2015) Foto: Kunstmuseum Bonn

Von Johanna Schmeller

Der Ärmel ist zu kurz, der Bund ist ausgeleiert. Das verwaschene Pullovergrün greift die staubige Farbe der Sitzfläche des Siebziger-Jahre-Stuhls wieder auf. Die Hand unterhalb des Ärmels ist sehr weiß, die Nägel sind rundgefeilt. Mann? Frau? Keine Ahnung. Der Kopf ist abgeschnitten, genau wie die schwarzen Hosenbeine. Ab dem Knie ragen sie über den Bildrand hinaus.

Und dann das: Zwischen den Jeanshosenbeinen hängt ein prachtvoller, langhaariger, rotgoldener Hundeschwanz in Richtung Boden. Entspannt liegt die rechte Menschenhand auf dem seidigen Tierfell, der Kopf des Hundes wird womöglich weiter oben von der linken Hand gekrault. Und genau so erzählt Heidi Specker in einem einzigen, unvollständigen Bildausschnitt eine ganze Geschichte: Der biedere Mensch, sicher kein Snob, hängt an dem edlen Hund, der gelassen auf seinem Schoß sitzt – wobei er da irgendwie auch wieder nicht hingehört. Er ist viel zu groß für einen Schoßhund. Was also ist hier los? Worauf warten beide?

Das Verwirrspiel zieht sich durch die ganze Ausstellung, durch das Werk dieser Künstlerin: Akteure werden zu Objekten, Beiläufigkeiten zu Hauptinhalten von Bildern. Erste Erwartungen werden niemals auf billige Weise einfach eingelöst.

In Speckers erster Überblicksschau „Fotografin“ verteilt das Kunstmuseum Bonn rund 70 Abzüge aus neun Werkgruppen der letzten 20 Jahre über drei Räume, und auch hier zeigt man sich für Experimente aufgeschlossen: Die Bilder unterschiedlicher Serien werden nicht chronologisch arrangiert, genau genommen überhaupt nicht logisch, sondern in neue, subjektive Sehzusammenhänge gebracht. Gruppen werden frei nach künstlerischer Intuition auseinandergerissen, bisherige Sinnbezüge aufgelöst, das Gesamtwerk auseinandergenommen und fremd zusammengesetzt – eine „Pralinenschachtel“, sagt Specker selbst dazu.

Architektur-, Natur-, Reise- und Porträtfotos in einer gedämpften, mattbunten Farbpalette hängen wild nebeneinander. Das Foto „Hand Hund“ (2016) gehört zur Werkgruppe „In Front of“. Die „Pilze“ (2007) aus der Gruppe „Magic Mountain“ greifen das Goldbraun wieder auf. Für die „Speckergruppen“ (1995/96) und die Serie „Teilchentheorie“ (1998) fotografiert sie die Architektur im Nachwende-Berlin – nicht dokumentarisch, sondern betont subjektiv. In Bonn hängen sie neben Naturserien wie „Im Garten“ (2003) oder der jüngsten Serie „SAAT SEED“ (2017). Ja, das ist reinstes Chaos. Und nein, es stört nicht. Ist super so.

Sehen lernen

Specker sehen heißt neu sehen lernen. Heidi Specker wird 1962 in Damme geboren. In den achtziger Jahren studiert sie Fotografie- und Film-Design in Bielefeld. In Leipzig leitet sie die Fotografie-Klasse an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Ihre Bilder setzen sich immer auch mit dem Medium auseinander, mit dem sie arbeitet – und damit, wie es rezipiert wird. Früh in den neunziger Jahren entscheidet sich Heidi Specker für den Wechsel von der Analog- zur Digitalfotografie, und für Fotoshop. Gerade in ihren Bildern aus Berlin verschwimmt die Trennung zwischen Vorder- und Hintergrund.

Die weißen Wolken in „Mitte“ (1995) etwa lassen den Betonklotz, der den Himmel im selben Bild weitgehend verdeckt, leuchten. Das Subjekt eines Fotos wird so oder ähnlich zum (assistierenden) Objekt gemacht und umgekehrt. Und allein das ist schon recht großartig. Mit akkuratem Gespür für Oberflächentexturen, Strukturen und Muster lenkt Heidi Specker den Blick der Betrachter auf das, was sie selbst sieht. Ihre Kameraführung öffnet den Blick auf eine sehr neue, andere, brutal zärtliche Welt immer knapp jenseits der Grenze des bisherigen Wohlfühlbereichs. Schönheit ist für Heidi Specker Definitionssache: Mit präzisem Blick blättert sie das Schöne im Hässlichen auf, oder, fast noch verstörender, das Schöne im Vergänglichen. Sie richtet die Kamera auf das Unbequeme im Gefälligen, auf das, was aus dem Rahmen fällt. Müde Gesichter sind echte Gesichter.

Über eine entgleiste Mimik, einen an der Kamera vorbei gerichteten Blick zeigt sie subjektives Alter, Verfassung, Lebensstil und Persönlichkeit in Halbtotale, im Halbprofil oder in Totale. Die abwesenden Blicke machen eine Aura greifbar – mehr noch als die gezeigte Person.

Wo sie Details – oft Hände – zum Hauptgegenstand eines Bildes macht, konzentriert sich ihr Blick auf feine Adern und abblätternden Nagellack. Kein einziges ihrer Fotos ist bloßes Abbild. Keinem einzigen Bild ist eine lahme Verführungsabsicht anzusehen. Klarer als von Specker könnte der Kontrast zwischen Magazinjournalismus, dokumentarischer Fotografie und Kunst dann auch nicht mehr illustriert werden: Magazinbilder sind selbsterklärend, Kunst versperrt sich allzu einfachen Deutungen.

Auf ein Foto des schönen Gesichts von Hannah Höch wirft sie ein Grasbüschel, das über den sinnlichen Lippen vertrocknet. „Wir sollten alle da, wo eine Erscheinungsform uns unverständlich wird“, so wird die Dada-Künstlerin im Katalog zitiert, „immer zuerst einmal uns selbst befragen, ob nicht da eine Erweiterung unseres eigenen Horizontes vonnöten wäre.“

Die Schau ist eine Horizont­erweiterung, und mehr noch: So, wie jede Geschichte erst mit einem Konflikt beginnt, erzählt jedes Specker-Bild eine Geschichte.

Bis 27. Mai, Kunstmuseum Bonn

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