Doku aus Uruguay auf der Berlinale: „Sie müssen bezahlen!“
Das historische Interviewmaterial in „Unas Preguntas“ zeigt Uruguay im Ringen um Demokratie. Die Frage nach Teilhabe ist nach wie vor aktuell.
Nach dreißig Jahren stieß die Schweizer Filmemacherin Kristina Konrad wieder auf das ungeschnittene Videomaterial, das sie mit einer U-matic-Kamera zwischen 1987 bis 1989 in Uruguay gefilmt hatte. Damals, kurz nach ihrem Umzug nach Montevideo und zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur in dem südamerikanischen Land, war Konrad gemeinsam mit ihren damaligen Freundinnen María Barhoum und Graciela Salsamendi losgezogen, um die Kampagnen zum Referendum über das umstrittene Amnestiegesetz für die Verbrechen des Militärs und der Polizei festzuhalten.
In unzähligen Interviews hatten die drei Frauen Menschen auf der Straße nach ihrer Meinung zur Straffreiheit, aber auch zu ihren Vorstellungen von Freiheit und Frieden befragt. Als dann im April 1989 das Amnestiegesetz per Volksentscheid mit 53 Prozent der Stimmen bestätigt wurde, war dies eine schmerzhafte Niederlage für all jene, die für eine juristische Aufarbeitung der Diktaturgeschichte des Landes gekämpft hatten. Ungenutzt verschwanden die Videoaufzeichnungen danach im Schrank.
Nun, mit zeitlicher Distanz, hat Konrad, unterstützt von René Frölke, dem Cutter, das inzwischen historische Videomaterial in „Unas Preguntas“ (deutsch: Einige Fragen) zu einem vierstündigen Dokumentarfilm arrangiert. Entstanden ist eine packende Chronik der damaligen Ereignisse in Uruguay und ein vielschichtiges Porträt der südamerikanischen Gesellschaft bei der Rückkehr zur Demokratie.
Mit einem etwas ungelenken Schwenk über die Bucht des Rio de la Plata zum gegenüberliegenden Hafen und der „Ciudad Vieja“, der Altstadt Montevideos, beginnt die spannende Zeitreise. Die Farben der 30 Jahre alten Videoaufnahmen wirken verwaschen, und in den ersten Minuten irritiert die niedrige Bildauflösung. Die Kamera schweift durch Straßen ohne Verkehr, vorbei an verfallenen Altbauten und den Pferdekarren der Müllsammler.
22. Februar., 12.30 Uhr, Arsenal 1, 23.Februar, 19.15 Uhr CineStar 8
Aus unmittelbarer Nähe dokumentieren Konrads Bilder die Mobilisierung durch die Angehörigen der Verschwundenen in den Stadtvierteln und später den euphorischen Zug der Menschenmenge, die schließlich die notwendigen Unterschriften für die Einleitung des Volksentscheids in verplombten Urnen den offiziellen Stellen übergeben kann.
Abstimmung auf Messen und Wochenmärkten
Auf Landwirtschaftsmessen, Wochenmärkten und in öffentlichen Parks befragten Kristina Konrad, María Barhoum und Graciela Salsamendi in den folgenden Monaten die Leute in der Stadt und auf dem Land zu der anstehenden Abstimmung. Manche sieht man mit kleinen tragbaren Radios, andere mit Thermoskanne und Mate unterwegs.
Als das Filmteam ein müde wirkendes Paar in abgetragenen Kleidern anspricht, das sich mit Kindern im Schatten ausruht, erzählt der Mann ohne Schneidezähne, vielleicht Anfang dreißig, dass er während der Diktatur bei der Marine gedient und dort Schlimmes gesehen habe. Er habe Befehle ausführen müssen, die unrecht waren, und sei deshalb gegangen.
Seine schweigsame Frau blickt durch dicke Brillengläser und ergänzt knapp: „Sie müssen bezahlen!“ Wie viele Kinder sie hätten, wollen Konrad und ihre Kolleginnen noch wissen. „Acht.“ – „Nein, sieben“, korrigiert sie ihn. Das achte sei gerade gestorben. Es gab keine medizinische Versorgung – dort, wo sie leben.
Doch auch die Verfechter des Amnestiegesetzes, Mitglieder der traditionellen Regierungsparteien der Blancos und Colorados, mobilisierten anlässlich des Referendums die Bevölkerung. Zum Wohle eines nationalen Friedens und des wirtschaftlichen Fortschritts forderten sie dazu auf, mit dem „voto amarillo“, dem gelben Stimmzettel, den Schlussstrich zu wählen. Während der grüne Stimmzettel, „el voto verde“, die Aufhebung der Straffreiheit unterstützte.
Die immer wieder zwischen Interviews und Straßenszenen geschnittenen Ausschnitte von TV-Werbung und Wahlspots der lokalen Fernsehsender jener Zeit machen deutlich, wie medial Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen wurde.
Dank einer überzeugenden Montage gelingt es Konrad und Frölke, das zeithistorische Material ohne nachträgliche Kommentierung zu einer komplexen Erzählung zu verdichten. Es zeigt kontroverse Erfahrungen und Interpretationen der gewalttätigen Vergangenheit. Der Dokumentarfilm vermittelt dadurch eine Ahnung des unerbittliche Widerstreits der politischen Lager über die Zukunft des kleinen Landes.
In dieser Auseinandersetzung schien das Ringen um juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in Uruguay untrennbar verwoben zu sein mit der bis heute aktuellen Frage nach politischer Teilhabe und gerechter Verteilung der Ressourcen.
Eine der eindrücklichsten Szenen in „Unas Preguntas“ findet zwischen den Gemüseständen eines Marktes statt. „Mir ging es in der Diktatur viel besser, das Leben war ruhiger und sicherer“, behauptet da ein Mann mittleren Alters und mit Schnurrbart, den provozierenden Blick in die Kamera gerichtet. Eine Frau bekräftigt von hinten: „Ich bin genau derselben Meinung.“
Sichtlich um Fassung bemüht, möchte die Interviewerin von einer älteren Frau neben ihr wissen, was sie denn getan hätte, wenn ihre Kinder verschwunden wären. Doch die ist sich sicher: „Wegen irgendetwas sind die verschwunden, etwas haben sie schon verbrochen.“ Eine hagere Frau ruft empört: „Lüge! Man darf nicht vergessen.“ Passanten bleiben stehen. Bald diskutiert die spontane Versammlung aufgeregt, doch respektvoll. Jemand erinnert noch an das Schicksal des 1988 bereits todkranken Tupamaro-Gründers Raúl Sendic.
Dann löst sich die Gruppe wieder auf und verschwindet unter den Marktbesuchern. Nur aus der Ferne hört man noch: „Yo voto amarillo“. – „Yo voto verde.“
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