: „Wir müssen den Zustand des Traumas verlassen“
Ein Gespräch mit der jüdisch-israelischen Autorin Michal Govrin über die Auswirkungen der Schoah auf Erinnerungskultur und Politik heute in Israel
Interview Sarah Ulrich
taz: Frau Govrin, in Ihren Büchern geht es viel um Erinnerung – vor allem an die Schoah. In der von Ihnen gegründeten Forschungsgruppe Transmitted Memory and Fiction bezeichnen Sie Erinnerung als Fiktion. Warum?
Michal Govrin: Es geht um die Frage nach individuellem und kollektivem Gedächtnis. Ich bin lange vor dem Thema weggelaufen. Es war zu schwer. Irgendwann war klar, dass ich nicht mehr weglaufen konnte, also begann ich, über meine Kindheitserinnerungen zu schreiben, und begriff, dass sie nicht meine eigenen privaten Erinnerungen sind, sondern auch die anderer. So wie wir Juden und Jüdinnen in den Konzentrationslagern nicht singulär waren, sind auch unsere Erinnerungen nicht singulär. Die Erinnerung ist Fiktion, wir Nachfahren haben die Schoah nicht erlebt. Wir konstruieren in unseren Köpfen, was sie ist. Fiktion ist zwar ein provokanter Begriff; er bedeutet aber, dass wir eine Verantwortung dafür haben, wie wir diese in den nachfolgenden Generationen konstruieren. Wir können nicht einfach behaupten, es seien Fakten. Wir haben die Erinnerung so konstruiert, weil es uns auf eine bestimmte Art geholfen hat. Das bringt uns in eine aktive Position.
Waren Sie denn vorher passiv?
Ja. Das ist ein paranoides Verhalten, das auch Auswirkungen auf israelische Politik hat. Unsere Armee ist so stark und dennoch verhalten wir Israelis uns, als seien wir schwach. Das ist schizophren. Wir Israelis, Juden und Jüdinnen, tragen an den Leiden der Schoah über Generationen. Wir sind seit 70 Jahren in einem Zustand des Traumas, den wir so schnell wie möglich verlassen müssen. Wir Nachfahren der Schoahüberlebenden müssen das als Ausgangspunkt für Veränderung sehen und merken, dass wir die Erinnerung kontrollieren können und nicht Opfer dieser Schatten der Vergangenheit sind.
Eine aktive Position als Weg aus der Opferrolle?
Ja, sie ist der Weg aus jeglicher Art von Markierung. Aus der Scham, der Opferrolle und auch aus der Schuld. Was wir mit unserer Forschungsgruppe vorschlagen, ist, Erinnerung als ein gegenwärtiges Thema und nicht als Vergangenheit zu behandeln und so zu personalisieren.
In dieser Forschungsgruppe spielt auch die Psychoanalyse eine wichtige Rolle. Warum?
Es gibt Reaktionen, die man durch Kultur oder seine Eltern erlernt, auch ohne zu sprechen. In der frühen Kindheit werden diese Verhaltensweisen und Instinkte größtenteils in uns verankert. Unser gesamtes emotionales Leben geht durch Teile des Stammhirns, die bereits früh markiert wurden – ob bewusst oder unbewusst. Bei Studien der Psychoanalytikerin Yolanda Gampel ist herausgekommen, dass sich die Traumata der Schoah-Überlebende auf ihre Kinder übertragen haben. Ebenso die Erinnerung – das nenne ich Transmitted Memory.
Die Kinder der Überlebenden sind also in der Gegenwart immer noch mit den Erinnerungen der Eltern beschäftigt. Führt die Auseinandersetzung damit nicht zu einem Konflikt zwischen individuellem und dem in der Erinnerungskultur vorherrschenden kollektiven Gedächtnis?
Leben Michal Govrin ist eine israelische Autorin, Theaterregisseurin und Dichterin. Sie ist 1950 in Tel Aviv geboren. Ihre Mutter überlebte das Krakauer Ghetto, das Arbeitslager Plaszow, Auschwitz-Birkenau und den Todesmarsch nach Bergen-Belsen, bevor sie nach Israel emigrierte. Ihr Vater war Mitgründer des Kibbuz Tel Yosef.
Schreiben Michal Govrin hat in Tel Aviv Literatur- und Theaterwissenschaften studiert, bevor sie in Paris promovierte. In ihren Büchern bezieht sie sich immer wieder auf die jüdische Religion und die Schoah. Ihr bekanntestes Werk ist „Body of Prayer“, das sie gemeinsam mit dem Historiker David Shapiro und dem Philosophen Jacques Derrida verfasste.
Gedenken 2013 gründete sie am Van Leer Jerusalem Institute die Forschungsgruppe Transmitted Memory and Fiction, die der Frage nachgeht, wie Gedenken an die Schoah fortgeführt werden kann, wenn es keine Überlebenden mehr gibt. Govrin lebt in Jerusalem.
Das kollektive Gedächtnis muss Platz für das individuelle lassen. Teil der Auslöschung war die faschistoide Art, Menschen eine externe kollektive Identität zuzuschreiben – ob imaginiert oder real. Aber die Schoah hat nicht erst 1939 mit der Vernichtung angefangen. Die Menschen müssen Verantwortung übernehmen, um zu sehen, welche vorangegangenen Ebenen der Diskriminierung es gab. Diese Geschichte ist viel wichtiger zu erinnern als nur die Gaskammern und Krematorien.
Aber ist das nicht auch wichtig, um die Grausamkeit zu begreifen?
Ja, vielleicht. Aber man nutzt diese Erfahrung, um Gefühle wie Trauer, Scham oder Schuld anzuregen. Den Horror zu betrachten ist aufregend, ein Adrenalinschub. Er fasziniert, aber Faszination ist eine Form der Paralyse. Das hilft nicht zu reagieren, sondern sperrt uns in Angst und Hilflosigkeit. Man kann das aufbrechen und mit den Erfahrungen und Kämpfen von Menschen, die mitten in der Schoah lebten, die nicht glorifiziert werden, kontrastieren.
Zum Beispiel?
Meine Mutter lernte nach ihrer Befreiung einen Ankläger der Auschwitz-Prozesse kennen. Als ich die Recherche über die Biografie meiner Mutter begann, bin ich mit ihm nach Bergen-Belsen gefahren. Er sagte, dass er die wichtigsten Dinge in seinem Leben von den Überlebenden gelernt habe. Und dass die Tragödie ist, dass ihre Lektion niemals gehört wurde. Die Geschichte der Überlebenden und wie sie es geschafft haben, sich selbst das Land Israel aufzubauen, ist eine Lehre, die vom israelisch-palästinensischen Konflikt vereinnahmt wurde. Dabei ist es wichtig zu fragen, was man von den Überlebenden hören will. Will man hören, wie sie gelitten haben? Oder wie sie sich selbst aufgebaut haben – was sehr viel weniger aufregend ist.
Sie fordern eine zukunftsorientierte Perspektive.
Ja. Was ich transformatives Gedächtnis nenne, fragt erst mal nach dem Problem in der Vergangenheit. Denn nur so kann Gegenwart verändert und in die Zukunft geschaut werden. Ich versuche, das zu personalisieren und daraus zu lernen. Für die Analyse ist es wichtig zu verstehen, wie die Erinnerung mich persönlich in meinem täglichen Verhalten beeinflusst. Da kann man aus der Erfahrung bestimmter Ereignisse lernen, zum Beispiel bei der Frage, wie wir mit heutigen Genoziden umgehen.
Sind diese denn mit der Schoah vergleichbar?
Die Schoah war definitiv ein singuläres Ereignis in ihrer Dimension und Grausamkeit. Dennoch: Man muss vorsichtig sein, denn sie als singulär zu betrachten, kann auch zu einer Perversion führen. Wenn wir sie als singuläre Vergangenheit sehen, die unser heutiges Leben nicht beeinflusst, wird sie uns nicht berühren. Wir müssen aber Lehren aus der Schoah ziehen. Sie betrifft uns täglich, unsere Systeme, unsere Gesetze, unsere Einwanderungsregeln. Die lebende Erinnerung sollte ein dynamisches Werkzeug sein. Auch das Wort Schoah sollte das Wort Holocaust ersetzen, denn es ist pervers. Die lateinische Bedeutung ist Opfergabe – das Gegenteil dessen, wie die Opfer sich selbst sahen.
Wenn es kein anderes Ereignis in dieser Dimension gab, hat der Antisemitismus dann eine Spezifik? Wo liegt der Unterschied zu anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus?
Das sind Ebenen. Antisemitismus und Rassismus entspringen den gleichen Instinkten, vor jemandem Angst zu haben, der anders ist oder als solches markiert wird. Der Unterschied ist, dass Antisemitismus zu einem Mythos manipuliert wurde, der geholfen hat, das Christentum zu schaffen. Jesus wurde viktimisiert, und der Fakt, dass er Jude war, ausgelöscht. Das konstante Leiden von Juden in der Welt wurde von der Kirche als Triumph gewertet, auf den sich die Gründung der christlichen Religion stützt. Es ist ein 2.000 Jahre altes Einstellungsmuster. Auch wenn das Naziregime antichristlich war, die pathologische Obsession der Angst vor Juden ist etwas, das noch immer nicht ausreichend untersucht wurde. Antisemitismus ist eine Krankheit. Eine kollektive, kulturelle psychische Krankheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen