Michael-Wolf-Ausstellung in Den Haag: Leben wie im Puppenhaus
Menschen in U-Bahnen und Hochhausfassaden: Das Fotomuseum Den Haag zeigt die Schau „Life in Cities“ des Fotografen Michael Wolf.
In den U-Bahn-Stationen von Tokio arbeiten sogenannte Pusher. Das sind Mitarbeiter in dunklen Anzügen und mit Schirmmützen und weißen Handschuhen, deren Aufgabe darin besteht, mit vollem Körpereinsatz möglichst viele Passagiere in die überfüllten Waggons zu drücken, bevor oder bereits während sich die Türen schließen. Buchstäblich eingepfercht wie die Ölsardinen fahren diese Menschen morgens in die Büros und Geschäfte und abends wieder zurück in ihre Wohnungen.
Der deutsche Fotograf Michael Wolf hat diese Passagiere porträtiert. Er hat sich auf den Bahnsteig gestellt und in die Züge hinein fotografiert. Entstanden sind dabei sehr nahe und persönliche, melancholische bis bedrückende Fotografien von Fremden, die für wenige Augenblicke vor seinem Objektiv erschienen und damit in sein Leben traten, bevor ihre Reise weiterging und sie in den dunklen Tunnel des U-Bahn-Systems verschwanden.
Es sind meist müde, oft abwesend wirkende und an die beschlagenen Glasscheiben gepresste Gesichter – die Tropfen des herunterlaufenden Kondenswassers wirken dabei wie Tränen.
Die Männer und Frauen dösen vor sich hin, manche mögen sogar schlafen, andere hören Musik, um der unmenschlichen Enge zumindest mental entfliehen zu können. Vereinzelte schauen direkt in Wolfs Kleinbildkamera – aber ihr Blick wirkt nicht überrascht oder gar ablehnend, sondern resigniert und gleichgültig: Sie beobachten den Fotografen, der wiederum sie beobachtet in dieser unfreiwillig intimen und zugleich öffentlichen Situation.
Porträts, die fast anklagend wirken
Genauso öffentlich sind diese Fotografien aus der Serie „Tokyo Compression“ nun ausgestellt, denn sie hängen direkt im Eingang zur Retrospektive „Life in Cities“ von Michael Wolf, die aktuell im Fotomuseum Den Haag zu sehen ist und die Ende des Jahres im Haus der Photographie in Hamburg gastieren wird.
Fast anklagend wirken diese Porträts vom anderen Ende der Welt, und obwohl sie natürlich ein sehr japanisches Phänomen zeigen, sind die Fragen, die sie aufwerfen, universell: „Unter welchen Bedingungen leben und arbeiten wir, was lassen wir alles mit uns machen, welchen Preis müssen wir dafür zahlen und vor allem: wofür eigentlich?“
„Architecture of Density“, Fotomuseum Den Haag, bis 22. April. Katalog: Michael Wolf, „Works“. Peperoni Books, Berlin, 296 Seiten, 50 Euro.
Diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch fast das gesamte künstlerische Werk des 1954 in München geborenen Michael Wolf. Seine Eltern zogen mit ihm in die USA, doch zum Fotografie-Studium bei Otto Steinert an der Essener Folkwang kam er 1972 zurück nach Deutschland. Mitte der 1990er Jahre ging er schließlich als Fotokorrespondent für den Stern nach Hongkong, wo er bis heute lebt.
Ausgerechnet Hongkong! Es gibt kaum eine Stadt mit höheren Lebenshaltungskosten, allein die Miete für eine 30-Quadratmeter-Wohnung übersteigt das Einkommen eines Universitätsabsolventen. In Hongkong gibt es die berüchtigtsten Rooftop Communities, illegale Baracken auf Hochhausdächern, genauso wie die Sozialbaukomplexe mit ihren 9 Quadratmeter kleinen Einraumwohnungen.
Kein Ausweg, keine Hoffnung
Wolf hat diese Räume und ihre Bewohner fotografiert und für die Ausstellung wurde ein solches Zimmer sogar ins Museum gebaut. Dort kleben die Fotos aneinander wie Bienenwaben und der Besucher kann, einem Panoptikum gleich, in alle Räume schauen und wird auch hier zu einer Art geduldetem Voyeur.
Doch Wolf nimmt auch eine gänzlich andere Perspektive ein. Für „Architecture of Density“ ist er buchstäblich zurückgegangen und zeigt uns Wohn- und Bürokomplexe, die er so dicht fotografiert, dass kein Platz mehr ist für Straßen, Bäume, einen Himmel oder irgendeinen anderen Ausweg, der den Bewohnern Hoffnung und unseren Augen die Möglichkeit zur Flucht gäbe. Andreas Gurskys berühmtes Foto „Montparnasse“ wirkt gegen Wolfs Blick fast leicht – und das muss man erst mal schaffen.
Ebenfalls Hochhausfassaden hat Wolf in Chicago fotografiert – dort allerdings hat ihn der abendliche Blick in die Büros und Wohnungen fasziniert, die er aus der Hochbahn heraus erhaschen konnte. Für „Transparent City“ wurde er wieder zum Voyeur und zeigt uns Wimmelbilder mit einer unglaublichen Informations- und Detaildichte, die zum Starren und Entdecken auffordern.
Aber auch hier geht es mitnichten allein um das Observieren. Wolfs Bilder zeigen wunderbar die Absurdität urbaner Parallelität, das Neben-, Unter- und Übereinander, aber niemals das Miteinander. Das ohnmächtige Aufbäumen des Individuums, der Querschnitt eines Puppenhauses, das wir Leben nennen.
Was bleibt, ist digitales Rauschen
Auf die Spitze getrieben hat Wolf die Entfremdung schließlich mit seinen Google-Street-View-Arbeiten. Wolf wurde zum Street Photographer der virtuellen Welt und hat dabei nach dem Wunderbaren, dem Faszinierenden, aber eben auch nach den „entscheidenden Momenten“, wie sie Henri Cartier-Bresson bezeichnet hat, im Alltäglichen gesucht.
Dafür klickte er sich durch zahlreiche Stadtansichten und entdeckte in den für jedermann zugänglichen Aufnahmen Rehe mit (scheinbar) drei Vorderbeinen, eine nackte Frau einsam am Strand, Menschen, die verletzt, ohnmächtig oder tot am Boden liegen, Männer, die den Google-Kameras den Mittelfinger ausstrecken und ein sich küssendes Paar – Robert Doisneaus „Der Kuss vor dem Rathaus“ lässt grüßen.
Von einigen Passanten hat Wolf die Gesichter so vergrößert, dass nichts weiter übrig bleibt als ein digitales Rauschen. Doch wer genau hinschaut, erkennt die Ähnlichkeit der Pixelanordnung in Wolfs strengen und pessimistischen Hochhausansichten wieder. Und auch, wenn sein Werk oft sehr distanziert und unterkühlt wirkt: Am Ende ist Michael Wolf ein Humanist.
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