: Das Schreiben der anderen
So angenehm anders als Literaturkritik in Deutschland: Der Essayband „Aus Neugier und Leidenschaft“ versammelt autobiografische und literaturkritische Texte von Margaret Atwood
Margaret Atwood: „Aus Neugier und Leidenschaft“. Aus dem Englischen von Christiane Bucher, Claudia Max und Ina Pfitzner. Berlin Verlag, Berlin 2017, 480 S., 28 Euro
Von Katharina Granzin
Von Margaret Atwood weiß man ja, dass sie keine Autorin ist, die sich hinter dem Schreibtisch verkriecht, um nur alle paar Jahre mit einem neuen Romanmanuskript wieder aufzutauchen. Ganz im Gegenteil hat sie sich ihren Ruhm nicht zuletzt damit erworben, dass sie sich einzumischen pflegt in das Gesumme der Welt. Der Band „Aus Neugier und Leidenschaft“ versammelt nun erstmals (das Original „Curious pursuits“ erschien vor ein paar Jahren) solche Gelegenheits- bzw. Auftragsarbeiten. Zahlreiche Rezensionen sind darunter, aber auch Texte mit breiterem literarischem Fokus (immerhin ist Atwood studierte Literaturwissenschaftlerin), ein paar wenige politische und etliche autobiografische Texte. Dieser Part wird ergänzt von einer längeren Einleitung, von der Autorin eigens zum Erscheinen dieses Bandes verfasst, in der sie zahlreiche Hintergrundinformationen zu ihrem Leben und zum gesellschaftlichen Kontext beisteuert.
Es ist letztlich immer interessant zu erfahren, unter welchen Umständen literarische Texte entstehen. Auch wenn Margaret Atwood sich zum Prozess des Schreibens weitgehend ausschweigt, ist sie sehr mitteilsam beim anekdotischen Drumherum. Den „Report der Magd“ schrieb sie während eines längeren Aufenthalts in Westberlin; und der Beginn von „Oryx und Crake“ zum Beispiel entstand in einem spontanen kreativen Ausbruch auf einer Reise nach Australien und Neuseeland. Solcherart Hintergrundwissen trägt natürlich zum tieferen Verständnis der so entstandenen Werke kaum etwas bei, aber die Atwood-Fangemeinde darf dabei das Gefühl haben, dem Leben der bewunderten Autorin ein kleines Stück nähergekommen zu sein.
Der weitaus größte Teil der Texte des Sammelbands aber sind Rezensionen von Werken anderer oder Nachrufe. Da es sich bei den Besprochenen zum überwiegenden Teil um kanadische AutorInnen handelt, gibt es, einerseits, für anglistisch Interessierte einiges zu entdecken. Andererseits nehmen Atwoods literaturkritische Arbeiten in diesem Sammelband so breiten Raum ein, dass es für europäische DurchschnittsleserInnen wahrscheinlich auch ein paar Rezensionen weniger hätten sein können.
Wenn man sich aber wirklich ganz durcharbeitet durch dieses dicke Textkonvolut, kommt man ziemlich schnell in eine Art Flow und wird angenehm gefangen genommen von der narrativen Qualität der Atwood’schen Literaturbesprechungen. (Allerdings ist ihr eigentlich so elegant-lakonisches Englisch bei der Überführung von der einen in die andere Sprache mitunter in ein recht trocken-hölzernes Deutsch transformiert worden, was außerordentlich schade ist.)
Diese ausführlichen Texte sind so ganz anders als das, was wir hierzulande unter Literaturkritik verstehen. Viele Texte stammen aus der New York Review of Books, die offenbar besonders gern bei Atwood anfragt, wenn es um kanadische Angelegenheiten geht. Literaturbesprechungen dürfen darin gelegentlich einen geradezu märchenhaften Umfang erreichen; zehn Buchseiten sind da schon mal drin. Inhaltlich geht es allerdings oft so ins Detail, dass man wegen gefühlten Spoiler-Alarms die Lektüre vorzeitig abbrechen muss, falls man vorhaben sollte, das betreffende Buch irgendwann selbst noch zu lesen.
Am erhellendsten sind die – leider wenigen – Überblickstexte, in denen Margaret Atwood sich ganzen literarischen Strömungen oder allgemeinen Entwicklungen widmet und dabei zumindest teilweise auch einen Einblick in den eigenen Schaffensprozess gibt. Ein Abriss über den historischen Roman in Kanada ist zum Beispiel dabei (zu dem Atwood mit „Alias Grace“ selbst beigetragen hat), ein Überblick über einflussreiche Science-Fiction-Literatur und eine Reflexion zur Begrifflichkeit im Genrespektrum zwischen science fiction und speculative fiction.
Es ist insgesamt ein sehr anregend zu lesender Sammelband, bei dem man sich nur gewünscht hätte, dass mehr Zeit und Sorgfalt auf eine stilistisch einheitliche Übersetzung verwandt worden wäre. Aber da Margaret Atwood ja 2017 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, wollte man wohl die erhöhte mediale Aufmerksamkeit nutzen und gab Übersetzungsaufträge an drei Personen gleichzeitig, damit das Buch schneller auf den Markt kommen kann. Das ist natürlich durchaus gängige verlegerische Praxis, die aber endlich abgeschafft gehört, zeugt sie doch von wenig Wertschätzung der jeweiligen sprachlichen Leistung und individuellen sprachlichen Eigenart. Diese Geringschätzung trifft Übersetzerinnen und Urheberin gleichermaßen.
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