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Protokoll eines Lawinenunglücks„Ich fühlte mich wie einbetoniert“

Ein Knall, ein Schlag, dann Schneemassen: Adina L. gerät auf ihrer ersten Skiwandertour in eine Lawine. Eine dramatische Suchaktion beginnt.

Verzweifelte Suche nach Adina. Hardangervidda, Norwegen Foto: privat

Mittwoch, 15. März 2017, 10 Uhr. Es ist ein stürmischer Morgen. Adina ist früh wach. Sie hat schlecht geschlafen in ihrem Zelt. Der dritte Tag der Wanderung steht bevor, es ist ihre erste große Skitour. Gemeinsam mit Stella, ihrer Freundin, und den Vätern der beiden, Uwe und Hendrik, ist sie in der Hardangervidda unterwegs.

Die Hardangervidda ist der größte Nationalpark Norwegens und liegt zwischen Bergen und Oslo. Michael, ein Freund der beiden Väter und Stellas Freund Jannik komplettieren die Skiwandergruppe. Das Gebiet ist ideal für Einsteiger: Geringe Steigungen, kaum lawinengefährdet.

Nach und nach kommt Leben in das kleine Zeltlager, das die sechs zwischen den Ortschaften Haugastøl und Finse eingerichtet haben. Es wird mit Kochern, Essenstüten und Lebensmittelbeuteln hantiert. Uwe und Hendrik sind erfahrene Bergwanderer und Skitourengeher, haben bereits Grönland auf Skiern durchquert und Lawinentrainings absolviert.

Der Plan für den Tag: 15 Kilometer wollen sie gehen, bis zum kleinen Bergdorf Finse auf 1.222 Meter Höhe. Dort befindet sich Norwegens höchstgelegene Bahnstation. Rund um das Lager peitscht der Wind, weht den Schnee auf, bildet kleine weiße Dünen. Michaels Handy vibriert: Eine SMS von seiner Frau. Orkan­warnung für Finse! Auch eine Lawinenwarnung gibt es. Doch davon ahnt die Gruppe nichts.

Starker Sturm

10.15 Uhr. Der Sturm ist zu stark. Die Gruppe plant um, sie wollen nun zurück in den Ort Haugastøl, aus dem sie gestartet sind und wo ein warmes Zimmer und eine heiße Dusche im Hotel warten. Dreizehn Kilometer Strecke bergab und bei Rückenwind. Adina – eine zierliche sportliche Frau mit dunklen, rotbraunen langen Haaren und klarem Blick – ist gut gelaunt. Sie freut sich, dass sie so gut mit den viel geübteren Männern mithalten kann.

Überleben unter Schnee

Dass man vier Stunden unter Schnee überlebt wie Adina, ist sehr selten. Zumal sie sich keinen Hohlraum zum Atmen freischaufeln konnte.

Die meisten Menschen ersticken deshalb – oder sie erfrieren. Adinas Körpertemperatur lag bei 28 Grad, ab 24 Grad setzt in der Regel das Herzkammerflimmern ein, das Herz bleibt stehen. In Einzelfällen haben Menschen 10 und sogar 20 Stunden unter Schnee überlebt. Wie Adina es geschafft hat? Lawinenexperte Peter Höller kann nur mutmaßen. „Vielleicht war der Schnee recht locker, und sie hat deshalb genug Sauerstoff bekommen.“ Auch habe sie sich wohl instinktiv ruhig verhalten, um Luft zu sparen.

Die beiden Väter sind enttäuscht, dass sie ihren Töchtern nicht zeigen können, was sie an Skitouren eigentlich so begeistert: Abseits der Zivilisation durch die weiße Weite zu ziehen, um sich herum tagelang nichts als Schnee, Eis, sanft geschwungene Bergkuppen – und unvergleichliche Stille.

11.20 Uhr. Zeit für eine erste Pause. Der Wind hat weiter zugenommen, es schneit ununterbrochen. Stella, Adina, Jannik und Uwe wärmen sich im Windsack ein wenig auf – das ist eine Art Zelt ohne Stangen, das man nur mit seinem Körpergewicht von innen straff hält. Es gibt heißen Tee und Müsliriegel. Die Stimmung ist gut. Schon bald wird man die Bahnlinie sehen können, die die Orte Finse und Haugastøl verbindet. Von da aus ist es nicht mehr weit.

Der Knall

11.40 Uhr. Sechs dick verpackte Gestalten stapfen durch den Schnee, der unaufhörlich vom Himmel fällt. Die Sicht ist schlecht, vielleicht 50 Meter. Plötzlich hört Hendrik einen Knall, schaut kurz auf. Er ruft, nein, er brüllt: „Lawine!“ Wie ein weiß schäumender Wasserfall strömen rechts von ihnen die Schneemassen den Hang hinab. Einen Hang, der nicht einmal sonderlich steil erscheint. In wenigen Sekunden rast der Schnee auf die Gruppe zu.

Adina spürt einen Schlag im Rücken, als die Schneemassen sie unter sich ­begraben. Wie Zement liegt der Schnee auf ihren Beinen, auf dem Bauch, auf der Brust. „Ich fühlte mich wie einbe­toniert, konnte gar nichts mehr bewegen“, erinnert sie sich später. „Gefroren habe ich eigentlich nicht. Ich habe nur gedacht: Das war es jetzt. Und: ­Hoffentlich sind die anderen in Sicherheit. Dann wurde es auch schon schwarz.“ Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten vergehen, dann setzt ihre Erinnerung aus.

Auch Hendrik spürt einen Schlag, wird mitgerissen, steckt kurz darauf bis zu den Knien im Schnee fest. Er schafft es, an seine mitgenommene Schneeschaufel zu kommen, seine Beine freizuschaufeln, sich zu befreien. Er sieht Jannik, der bis zur Hüfte im Schnee steckt, schlägt sich zu ihm durch, gräbt ihn frei. Gemeinsam suchen sie die anderen, rufen nach ihnen. Sie sehen Stella und Michael. Michael hat einen Notpeilsender, mit dem man ein Rettungssignal senden kann. Noch bevor die anderen ihn ausgraben, drückt er den Notruf. Schnell muss es gehen.

Wenn man länger als 40 Minuten unter Schnee liegt, sinken die Überlebenschancen auf unter 30 Prozent. Die drei finden Uwe. Der hat es geschafft, mit geballter Kraft einen Arm durch die harte Schneedecke zu schlagen. Noch Wochen später wird ihn ein ziehender Schmerz in der Schulter daran erinnern. „Wir haben alle gefunden“, sagt Hendrik zu den anderen. „Nur Adina fehlt noch.“

Die Suche nach Adina

12.15 Uhr. Stellas Handy hat Empfang. Sie rufen die 112. Uwe, Michael und Hendrik wissen genau, was jetzt zu tun ist. Da sie ohne Verschüttetensuchgerät unterwegs sind, müssen sie mit Stangen systematisch und vor allem schnell das Gebiet absuchen. Doch Sondierungsstangen, wie sie für die Suche von Verschütteten benutzt werden, haben sie zu Hause gelassen. Stattdessen kleben sie Zeltstangen mit etwas Tape zusammen. Adina lief an dritter Stelle zwischen Uwe und Stella. Sie muss hier doch irgendwo sein!

12.44 Uhr. Erst eine Stunde später erreicht das Signal von Michaels Notpeilsender die lokale Polizei. Anstatt den Notruf unverzüglich nach Norwegen weiterzuleiten, wollte die Zentrale in den USA, wo der Notruf einging, erst prüfen, ob er berechtigt oder vielleicht doch fehlausgelöst war. Nun bekommt Michael eine schriftliche Rückfrage auf das Gerät: Was genau ist passiert?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Michael schreibt: „Lawine/Avalanche – five save, one missing.“ Ein Polizist, Sanitäter und zwei freiwillige Helfer brechen mit Schneescootern auf. Nach etwa 20 Minuten sind sie am angegebenen Ort. Doch irgendetwas stimmt nicht: Die Position ist ungenau! Und wieder vergeht Zeit. Als sie die Gruppe endlich finden, liegt Adina schon seit über zwei Stunden unter dem Schnee.

13 Uhr. Pål Bakken ist bei der Arbeit, als sein Handy klingelt. Bakken ist ehrenamtlicher Hundeführer der norwegischen Rettungshundestaffel. Sein fünf Jahre alter Border Collie Tedd hat erst ein Jahr zuvor die Prüfung als Lawinenhund bestanden. In einem aufwendigen Training wurde er darauf abgerichtet, auf menschlichen Geruch anzuschlagen, zu „markieren“. „Man denkt nicht viel nach, wenn so ein Anruf kommt. Nur: Schnell den Hund abholen und ab ins Auto.“ Der Motor des Autos tuckert, etwas stimmt nicht. Aber er fährt einfach weiter.

Kaum noch Hoffnung

14.30 Uhr. Immer mehr Helfer treffen am Unfallort ein. Wegen des schlechten Wetters muss ein Hubschrauber wieder umkehren. Ein Arbeitszug wird eingesetzt, um die Helfer so nah wie möglich zur Unglücksstelle zu bringen. An der Bahnlinie wird eine kleine Hütte zur Krankenstation umfunktioniert, circa 300 Meter von der Unglücksstelle entfernt.

Stella hat das Knie verdreht, Uwe ist erschöpft und benommen, die Verzweiflung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie gehen langsam aus dem Suchteam heraus in Richtung Schutzhütte. Michael und Jannik suchen weiter. „Als wir auf der Hütte ankamen, war für mich klar: Ich habe meine Tochter verloren. Das war der schlimmste Moment“, sagt Uwe.

15.35 Uhr. Dreieinhalb Stunden sind vergangen. Die Helfer sind erschöpft. Es gibt kaum noch Hoffnung, Adina lebend zu finden, als endlich die Rettungshundestaffel mit dem Zug eintrifft. Sieben Rettungshunde sind dabei. Pål Bakken legt seinem Hund Tedd die Einsatzdecke an. Sofort nimmt Tedd Fährte auf. Er will höher den Hang hinauf, viel weiter nach oben, als bisher gesucht wurde. Dort bleibt er stehen, schnüffelt. Läuft weiter, kehrt um. Schnüffelt wieder an derselben Stelle. Er legt sich auf die Vorderpfoten und bellt. Er „markiert“.

Schnell eilen andere Rettungskräfte an die Stelle, stechen mit ihren Stangen in den Schnee. Da ist etwas! Eineinhalb Meter tief schaufeln sie den Schnee weg. Nur wenige Minuten dauert es, bis sie Adina finden. Vier Stunden nach dem Abgang der Lawine ziehen sie einen schmalen, bleichen und eiskalten Körper aus dem Schnee. Achtundzwanzig Grad Körpertemperatur hat Adina zu dem Zeitpunkt. Aber sie lebt.

Adina wird von der Schutzhütte aus mit einem Rettungszug in den nächsten größeren Ort transportiert. Eine knappe Stunde dauert die Fahrt. Auch ihr Vater Uwe wird dorthin gefahren. Von da aus werden beide ins Ullevål Krankenhaus nach Oslo geflogen. Adina kommt dort auf die Intensivstation. Sie lebt, aber wird sie auch überleben?

Uwe wartet im Gang. Jemand legt ihm eine Wolldecke um die Schulter. Er bekommt eine warme Mahlzeit und eine Tasse Kaffee. Allmählich, im Laufe der Nacht, stabilisiert sich Adinas Zustand.

Der Hirn-Check

Donnerstag, 16. März, 8 Uhr. Adina ist schwach, aber bei Bewusstsein. Als eine Ärztin ihr Fragen stellt, um ihre Gehirnfunktionen zu überprüfen, will sie unbedingt alles richtig machen. „Wie heißt du?“ – „Adina.“ – „Wie alt bist du?“ – „23.“ – „Weißt du, wo du jetzt bist?“ – „Im Krankenhaus in Bergen … Nein! In Oslo! Ach Mist, das hatte ich doch extra mit Papa geübt!“

Adina ist von Beruf Logopädin, sie hat zu diesem Zeitpunkt selbst noch Sorge, dass ihr Gedächtnis und ihr Sprachzentrum beeinträchtigt sind. Die Städte hat sie aber nur vor Aufregung verwechselt.

Freitag, 17. März, 10 Uhr. Adina hat überlebt. Zwei Tage nachdem sie für fast vier Stunden unter einer Lawine begraben war, darf sie das Krankenhaus verlassen. „In gutem Zustand und ohne physischen Schaden reist sie mit ihren Eltern mit der Kielfähre nach Hause nach Deutschland“, heißt es lapidar im Lawinenbericht des Norwegischen Geotechnischen Instituts.

Dass sie sich an die vier Stunden unter dem Schnee kaum noch erinnern kann, dafür ist sie dankbar. „Ich bin froh, dass ich in der Situation war und nicht mein Vater. Die Zeit auszuharren und nicht zu wissen, ob vielleicht mein Vater tot ist, wäre für mich schlimmer gewesen.“

Unsere Autorin Andrea Sievers hat Adina und Uwe L., Stella und Hendrik T. sowie Michael B. in Leipzig interviewt. Die Gruppe stammt aus der Region Leipzig. Sievers hat zudem die norwegischen Behörden zum Unfallhergang befragt.

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