: Diva der ägyptische Kunstmusik
Von den 1930er Jahren bis über ihren Tod im Jahr 1975 hinaus dominierte Oum Kalthoum die ägyptische Musik. Im HAU Hebbel am Ufer wird sie an zwei Abenden gefeiert – mit dem ersten Projekt von The Wedding Orchestra for Middle Eastern Music
Von Eric Mandel
Oum Kalthoum, Om Kalsoum oder Umm Kulthum? Schreibweisen gibt es viele für die Sängerin, aber nur einen Platz: den ersten. Von den dreißiger Jahren bis über ihren Tod im Jahr 1975 hinaus dominierte Umm Kulthum mit ikonischer Sonnenbrille, Kopf- und Taschentuch sowie einer Stimme, die Millionen in ihren Bann schlug, die ägyptische Musik. Sie repräsentiert ihre Essenz und ganzen Stolz sowie einen neuen weiblichen Künstlertypus. Sie kontrollierte jeden Aspekt ihrer Karriere, handelte Film-, Konzert-, Rundfunk- und Plattenverträge persönlich aus und zementierte früh ihren Ruf als beste und bestbezahlte Sängerin. Sie suchte die Nähe der Macht und wusste ihren Einfluss zu nutzen, um Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Und sie arbeitete aus Prinzip mit den Besten: Dichter wie Bayram al-Tunisi und Ahmed Rami und Komponisten wie Zakkarya Ahmad, Riad Al Sunbati und Mohammed Abdel Wahab lieferten ihr das Material, das sie auf der Bühne zu dem ihren machte. Ihre einzigartige Weise der künstlerischen Durchdringung und Aneignung des Liedes ist der Schlüssel zu einem Erfolg, der allein mit Ehrgeiz und Powerplay nicht zu erklären ist.
Geboren um die Jahrhundertwende als Kind einer Beduinenfamilie, begleitete sie ihren musizierenden Vater zunächst bei Auftritten in der Provinz. Aus Pietätsgründen ließ er sie dabei Jungenkleidung tragen – erst recht, als sie Solo-Engagements in Kairo annahm. Bald fand sie einen eigenen femininen Look, wahrte aber stets Distanz zum anrüchigen Unterhaltungsmilieu. Zwar handelten auch ihre Lieder zum überwiegenden Teil von Liebe und Sehnsucht, doch mied sie Referenzen auf mögliche Erfüllung und bezog sich stattdessen auf den Koran, den sie selbst als ihren „ersten Lehrer“ bezeichnete.
Während Musiker wie Mohammed Abdel Wahab oder die Geschwister Farid und Asmahan Al-Atrasch mit Elementen westlicher Musik flirteten, formulierte sie in ihren immer komplexer werdenden Arrangements eine künstlerische, nationalistische Identitätspolitik, die „Europa“ nicht mit Fortschritt identifizierte. Statt mit der Funktionsharmonik lateinamerikanischet Rhythmen oder dem für Vierteltöne ungeeigneten Piano zu experimentieren, nutzte sie den reichen Vorrat an arabischen Instrumenten, Tonleitern, Metren und lyrischen Referenzen, um eine distinktiv ägyptische Kunstmusik zu kreieren, die heute kanonisch ist. In den 1950er Jahren konnte eines ihrer Lieder weit über eine Stunde dauern. Notenblätter waren auf der Bühne verboten, die Musik musste in kräftezehrenden Proben internalisiert werden, damit die Musiker auf jede Entscheidung der Sängerin reagieren konnten.
Dehnen, spiegeln, trillern
Und die nahm sich im Rahmen eines faszinierenden Wechselspiels aus Komposition, Improvisation und Interaktion jede Freiheit, einzelne Zeilen, Wörter oder Silben zu wiederholen, zu variieren, zu dehnen und zu spiegeln und dabei mit Trillern, Vierteltonverzierungen und Modulation des Timbres die ganze Kraft und Flexibilität ihrer Stimme an ihnen auszuprobieren. Solche Vokalexkursionen wurden vom Publikum mit Beifallsbekundungen und Wiederholungsrufen quittiert, dieses Wechselspiel prägte die Dynamik des Konzerts und lange Zeit ihr Repertoire. Jeder im Publikum konnte sich so mitbeteiligt und mitgemeint fühlen.
Sie war eine jener raren Künstlerinnen, die nicht polarisierte, sondern vereinte, wobei oft nicht klar war, wer wem folgte: sie der Masse oder anders herum. Als Nassers Kulturbotschafterin perfektionierte sie einen Populismus, der ihr Bekenntnis zur einfachen Herkunft mit religiöser Pietät, konservativem moralischen Kompass und einer identitätsstiftenden Projektionsfläche für ein Publikum aller Schichten verknüpfte. Ihre Donnerstagskonzerte im Radio wurden kollektiv in der Öffentlichkeit goutiert, ihre Schallplatten waren Teil jedes Haushalts, sie war weit über die Grenzen Ägyptens hinaus fester Teil der Populärkultur. Selbst im von ihr herzlich gehassten Israel, wo kein Krieg die Leute davon abhalten konnte, am Freitagabend den „Ägyptischen Film“ im Staats-TV einzuschalten. Und wo zumindest bei den „Mizrachi“, den aus arabischen Ländern stammenden Juden, auch Umm Kulthum zum bittersüßen Repertoire der Nostalgie gehörte.
Heute ist die Sängerin ein ägyptisches Wahrzeichen, so groß wie die Sphinx. Sie hat ihre eigene Schule begründet mit einem Werk, an dem sich Sängerinnen wie Amal Maher und Musiker wie Ibrahim Malouf abgearbeitet haben. Der Spielfilm „Looking for Oum Kulthoum“ von Shirin Neshat kommt im Frühjahr ins Kino. Dabei sehen jüngere Musikerinnen wie Yasmine Hamdan das Monopol der Diva durchaus kritisch. „Umm Kulthum repräsentiert für mich Autorität […], und sie beanspruchte allen Platz für sich“, gibt die im Libanon geborene Sängerin zu bedenken und orientiert sich lieber an der schillernderen Asmahan.
Andere finden Wege, Umm Kulthums Musik den politischen Verhältnissen anzupassen. „When the world is burning with hate, it’s a pleasure playing songs of love“, sagt Regisseur Ariel Efrahim Ashbel über „Celebrating Oum Kalthoum“, das Pilotprojekt seines Wedding Orchestra for Middle Eastern Music. Auf dem Programm: die neoklassizistischen Spätwerke „Alf Leila Wa Leila“ (1001 Nacht), „Leylet Hob“ (Nacht der Liebe) und der von Abdel Wahab komponierte, aber von der Diva monopolisierte Megahit „Inta Omri“ (Du bist mein Leben). Es ist eine Verneigung von Künstlern aus diversen Ländern, in denen ihre Musik verehrt wird, und das sind mittlerweile viele: Ashbel kam 2011 aus Tel Aviv nach Berlin, der musikalische Leiter Alexey Kochetkov stammt aus Russland, Sängerin Ruth Rosenfeld aus New York, Sänger und Oud-Spieler Abdulkader Asli aus Syrien, zu Stab und Ensemble gehören Künstler aus Europa, der Türkei, Israel und Syrien. Es ist die neue Berliner Mischung: Geflüchtete, Immigrierte und Expats appellieren an die Fähigkeit von Umm Kulthums Musik, Menschen zusammenzubringen.
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