: Liebe, Demut und Atome
Für Spötter ist Glaube Wunschdenken. Vielleicht tun wir uns aber nur schwer, das zu erfassen, was unserem naturwissenschaftlichen Zugriff entschlüpft
Hilal
Sezgin,
geboren 1970, lebt als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Im Juli erschien ihr jüngstes Buch: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs“ (DuMont Buchverlag)
Die Schlagloch-Vorschau:
27. 12. Jagoda Marinić,
3. 1. Mathias Greffrath,
10. 1 . Georg Seeßlen,
17. 1. Ilija Trojanow
Als ich Ende der 1980er Jahre Philosophie zu studieren begann, gehörte eine kräftige Dosis Marxismus zum Programm. In Tutorien und Arbeitsgruppen lasen wir ein bisschen Marx und, weil wir in Frankfurt waren, viel Horkheimer und Adorno. Bis heute zehre ich davon, insbesondere von deren Ideologiekritik. Aber eines bedauere ich daran, nämlich die Verunsicherung in Sachen Religion.
Bis heute geistern allerlei linke Einwände gegen Religion durch den Diskursraum, die angeblich marxistisch geboten sind. Der erste Einwand mündet in die griffige Formel, Religion sei Opium fürs Volk und bewirke, dass die unter Ungerechtigkeit leidenden Menschen ruhiggestellt würden. Weil sie an die Gottgegebenheit der gesellschaftlichen Ordnung glaubten oder auf ein besseres Jenseits hofften, versuchten sie angeblich nicht, das Hier und Jetzt zu verändern. Der zweite Einwand lautet, dass Glaube schlicht Aberglaube sei: unbegründbare Metaphysik, absurdes Festhalten an einem kindlichen Wunschbild vom himmlischen Übervater mit Rauschebart.
Beide Einwände lassen jemanden, der oder die heutzutage gläubig ist, zumindest in linken Kreisen mehr oder weniger wie einen Idioten dastehen. Gerade jetzt machen entsprechende „religionskritische“ Cartoons wieder die Runde. Es ist schließlich nichts leichter, als sich über Leute lustig zu machen, die die jungfräuliche Geburt eines Gottessohnes feiern oder die Offenbarung einer göttlichen Rede in Versform, empfangen von jemand, der selbst nicht mal lesen und schreiben kann.
An diese Selbstverständlichkeit linken Naserümpfens über Religion gewöhnt, haben mich in diesem Jahr zwei Wiederbegegnungen mit marxistischen Texten staunen lassen. In ihrem Buch über „Die Erfindung des Marxismus“ schreibt die Historikerin Christina Morina über die „ambivalente Rolle der Religion als Ausdruck eines Grundbedürfnisses des Menschen. Marx hatte ja Religionen nicht nur als ‚das Opium des Volkes‘ verflucht, sondern verstand sie auch als ‚Seufzer der bedrängten Kreatur‘ und ‚Gemüt einer herzlosen Welt (…)‘.“
Ambivalenz ist hier das entscheidende Stichwort: Religion einfach abzuurteilen ist genauso verkürzt, wie sie als Allheilmittel anzupreisen. Gewiss sind viele Menschheitsverbrechen im Namen einer Religion begangen worden. Aber viele eben auch im Namen säkularer Weltanschauungen. Und ja, viele Menschen erdulden Ungerechtigkeiten, weil ihre Religion sie darin bestärkt. Aber viele lehnen sich gegen Ungerechtigkeit auf oder kämpfen für andere – aus religiösen Gründen. Es gibt da keinen zwingenden Zusammenhang.
Schwerer noch wiegt der zweite Einwand, dass Glaube automatisch Irr- oder Aberglaube sei. Angeblich darf man sich nur an das halten, was wissenschaftlich beweisbar, mit Zahlen belegbar und ohne jeden Bezug zu „Metaphysik“ zu erklären ist. Das jedenfalls behaupten linke Religionsspötter gerne; aber dann las ich erneut in Max Horkheimers Aufsatz „Materialismus und Moral“ (1933). Der junge Horkheimer war jeder Religion und Metaphysik gegenüber sehr ablehnend eingestellt, aber das heißt nicht, dass er nie an etwas appellierte, das idealer Natur ist und sich somit nicht beweisen lässt.
Da ist von Mitleid die Rede und von Liebe – der Liebe für jeden Einzelnen „als das mögliche Mitglied einer glücklichen Menschheit. (…) Allen, sofern sie Menschen sind, wünscht sie die freie Entfaltung ihrer Kräfte. Es scheint ihr, als hätten die lebenden Wesen einen Anspruch auf Glück, und sie fragt nicht im Geringsten nach einer Rechtfertigung oder Begründung dafür.“
Im selben Aufsatz betont Horkheimer die Verwandtschaft unseres Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere, und aus all diesen Sätzen klingt eine Emphase, die wesentlich über das hinausgeht, was sich mit säkularen Argumenten allein erreichen lässt. Für diese Art von Solidarität oder Liebe brauchen wir keine „Rechtfertigung“ oder „Begründung“ – sondern den Glauben. Dabei bedeutet Glaube nicht primär, dass wir etwas zu wissen meinen, bloß blöderweise nicht beweisen können. Glaube meint hier eine Form von Vertrauen in etwas, dem zu folgen für viele sinnvoll ist.
Doch zurück zu der irritierenden Selbstsicherheit, mit dem viele „aufgeklärte“ Menschen heute den „Aberglauben“ des Glaubens unter Hinweis auf das naturwissenschaftliche Weltbild abtun. Noch die großen europäischen Aufklärer, ob Naturwissenschaftler oder Philosophen, haben mehrheitlich an Gott oder eine vergleichbare transzendente Realität geglaubt. Unser heute tonangebendes agnostisches bis atheistisches Weltbild ist sehr jung und, soweit wir wissen, ein im Ursprung rein europäisches Phänomen. Menschheitsgeschichtlich haben wir es mit einem extrem kleinen Ausschnitt menschlichen Weltbezugs, Erklärens und Handeln zu tun.
Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass ausgerechnet wir Westeuropäer der letzten paar Jahrhunderte eine riesige Selbsttäuschung der gesamten Menschheit aufgedeckt haben; immerhin haben wir auch entdeckt, wie man Atome spalten kann. Aber so viel Durchblick auf allen Ebenen scheint doch ziemlich unwahrscheinlich, oder? Und gerade wenn unsere neuzeitlichen Methoden so gut darin sind, die kleinsten Winkel der physikalischen Welt zu erforschen, folgt daraus doch in keinster Weise, dass wir auch gut gerüstet sind, die nichtphysikalischen Aspekte des Seins zu erfassen. Vielleicht tun wir uns sogar besonders schwer, das zu würdigen, was unserem spezialisierten, naturwissenschaftlich orientierten Zugriff entschlüpft.
Und hier sind wir beim Begriff der Demut angelangt, einem zentralen Begriff zumindest der drei abrahamitischen Religionen: Liebe Religionsspötter*innen, gesteht uns doch immerhin die Demut zu. Demut angesichts all dessen, was man mit menschlicher Sprache und Verstand nicht erfassen kann.
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