Werkzeug des Handelns

Die Ausstellung „A Tale of Two Worlds“ im Frankfurter Museum für Moderne Kunst ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem postkolonialen Ansatz musealer Präsentationen

Eines der Leitmotive der Ausstellung ist die Bedeutung von Schrift, eingesetzt als poetisches Zeichen oder als politisch konnotierte Botschaft. Lenora de Barros’ Werk „Poema“ entstand 1979 Foto: Axel Schneider/MMK

Von Isabel Rith-Magni

Das Museum Moderne Kunst (MMK) mit seiner extremen Keilform ist ein Paradebeispiel der architektonischen Postmoderne. Den Frankfurtern und einem internationalen Publikum ist es wohl vertraut durch seine exquisite Sammlung der europäischen und nordamerikanischen Gegenwartskunst. Üblicherweise begegnet man hier neben hochkarätigen Arbeiten von Frankfurter Künstlern wie Thomas Bayrle oder Charlotte Posenenske Stars der internationalen Kunstszene, die zum westlichen Kanon zählen – Joseph Beuys, Hanne Darboven, On Kawara, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg, Blinky Palermo, Gerhard Richter und Andy Warhol. Darauf ist man stolz.

Eine solche Beschreibung, die mit Qualitätsbegriffen, Bekanntheitsgrad und big names hantiert und einen vermeintlichen Konsens bei dem kenntnisreichen Leser abruft, führt ins Zentrum einer komplexen Problematik. Ihr stellt sich das Frankfurter Museum mit seiner am Samstag eröffneten Ausstellung „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ auf vorbildliche Weise. Worin besteht aber die angesprochene Problematik, die zu einer Herausforderung für die Ausstellungspolitik in Zeiten einer zunehmend globalisierten Welt geworden ist?

Es geht um die – letztlich triviale, aber dennoch nur zaghaft umgesetzte – Erkenntnis, dass Kunstgeschichte die Realität nicht etwa objektiv abbildet, sondern eine variable Konstruktion ist. Diese setzt sich umso stärker durch, je mehr sie eine identitätsstiftende Funktion bedient. Das ist der Fall, wenn die guten alten Bekannten aus dem eigenen Umfeld dadurch nobilitiert werden, dass sie – mit dem Siegel wissenschaftlicher Argumente versehen – in die große Erzählung von der hohen Kunst Eingang finden. Leicht wird dabei vergessen oder verdrängt, dass eine solche sinnstiftende Erzählung auf einer subjektiven, bewusst oder unbewusst interessegeleiteten Auswahl und Zusammenordnung von Fakten beruht.

Abgesehen von ein paar Publikumslieblingen wie beispielsweise Frida Kahlo und Fernando Botero, die aber oftmals Stereotype von Lateinamerika als farbenfrohem, surrealem, folkloristischem Kontinent bedienen, ist die Kunst Lateinamerikas in Deutschland dem Publikum eher selten in einer Art präsentiert worden, die die Heterogenität dieses Kulturraums, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die künstlerische Eigenständigkeit und ästhetische Innovationskraft dieser Region anschaulich werden lässt.

Neben der offiziellen oder zumindest weitgehend konsensualen Geschichte, die hierzulande häufig eurozentrisch ist und dem westlich konditionierten Blick Vorrang einräumt, gibt es ungezählte unerzählte Geschichten. Eine davon hör- und sichtbar zu machen, ist nun das MMK in Kooperation mit dem Museo de Arte Moderno de Buenos Aires (MAMBA) angetreten: In angemessener Bescheidenheit ist es keine „kleine Weltgeschichte“ geworden, aber immerhin „Eine Geschichte von zwei Welten“.

Die Perspektive, aus der eine Geschichte erzählt wird, ist dabei entscheidend. Daher ist es keine Nebensächlichkeit, zu erwähnen, dass bei der Konzipierung der Schau im Sinne eines „critical curating“ ein gemeinsames Kuratorenteam aus Frankfurt und aus Buenos Aires – bestehend aus Klaus Görner (MMK-Kurator), Victoria Noorthoorn und Javier Villa (Direktorin und Senior-Kurator des MAMBA) – für gekreuzte Blickachsen sorgte.

Mit dem Stichel traktiert

Die Idee, die der Ausstellung zugrundeliegt, ist es, Berührungspunkte, Überschneidungen, Trennungslinien, Widersprüche, Parallelen, Koinzidenzen, Verquickungen und Analogien zweier ästhetischer Traditionen zu erkunden, deren soziopolitische Kontexte sich unterscheiden. Der Leitbegriff des Ausstellungskonzepts lautet „Dialog“. Und dieser wechselseitige Austausch wird in all seinen Facetten gezeigt.

Wie es sich für eine gute Geschichte gehört, beginnt die Erzählung mit einem Einstieg, der Fragen aufwirft und von dem aus Stränge entwickelt werden können. Als Auftakt findet der Besucher auf dem Boden des trapezförmigen Herzraums des Museums eine massive Bronzekugel mit aufgerissener Oberfläche; an der einen Wand wird sie flankiert von einer monochrom pinkfarbenen Leinwand, die mit einem Stichel traktiert wurde; an der gegenüberliegenden Wand scheint das traditionelle Bildformat bereits explodiert zu sein. Rote „Puzzleteile“ sind auf der Wand versprengt angeordnet.

Alle drei Arbeiten aus den 1960er Jahren stammen von Lucio Fontana, der für die nachfolgende Entwicklung, insbesondere aber für den Diskurs zur Wesensbestimmung von Bild und Raum wegweisend werden sollte. Fontana war ein Wanderer zwischen den Welten, genauer zwischen Argentinien und Italien. Er gilt den Ausstellungsmachern als Schlüsselfigur der Beziehungsgeschichte zwischen den künstlerischen Entwicklungen dies- und jenseits des Atlantiks. „Fontana steht emblematisch für die transzendente Bedeutung von Ideen, die von Künstlerinnen und Künstlern aus Lateinamerika über ihre territorialen Grenzen hinweg ein- und ausgeführt wurden“, heißt es im Ausstellungskatalog.

Das traditionelle Bildformat scheint explodiert zu sein

Von diesem Referenzpunkt ausgehend entwickeln sich über alle Stockwerke des Hauses drei Erzählstränge, welche die ungefähr 500 Exponate in assoziativer Reihung zu 16 Kapiteln ordnen. Die erste Ausstellungsachse geht auf die politischen Hintergründe ein, die zweite Achse der Ausstellung befasst sich mit dem Paradigmenwechsel von der materiellen hin zur immateriellen Dimension, und die dritte Hauptachse rückt die Künstlerrolle in den Vordergrund.

Zu den Leitmotiven, die in den Kapiteln immer wieder auftauchen, gehört neben etlichen anderen die Bedeutung von Schrift, eingesetzt als poetisches Zeichen oder als politisch konnotierte Botschaft. Neben Konsum- und Kapitalismuskritik und der Fokussierung auf den Körper klingt thematisch auch der spirituelle Bereich immer wieder an (Schamanentum, Rituale, Kosmologien). Des Weiteren der kulturelle Identitätsdiskurs, der den Rückgriff auf den präkolumbianischen Formenschatz inhaltlich in einem anderen Licht erscheinen lässt als eine rein formale Anleihe.

Ein wiederkehrendes Motiv ist zudem die politische Aufladung, die den uruguayischen Künstler Luis Camnitzer zu der Gesamteinschätzung kommen lässt, eine wirkliche Abgrenzung ergebe sich bei den lateinamerikanischen Künstler erst insofern, als die Kategorie der Kunst von geringerer Bedeutung sei als die der Krise: „Für sie ist die Kunst nicht Herstellung von Objekten oder ein persönliches Statement, sondern ein Werkzeug für politisches und kulturelles Handeln.“

Die Ausstellung in Frankfurt/Buenos Aires ist die erste von mehreren, die einer großzügig geförderten Initiative der Kulturstiftung des Bundes folgt, um museale Präsentationen einer multizentrisch verstandenen Moderne und Gegenwartskunst zu erproben. In einer von Globalisierung, Migration und Transkulturalität bestimmten Gesellschaft sei es für Kunstmuseen von großer Bedeutung, diese Entwicklungen mitzugestalten und ihre Sammlungs-, Forschungs- und Ausstellungspraxis deutlicher als bisher zu internationalisieren. Daher möchte die Kulturstiftung des Bundes mit ihrem Programm „Museum global“ „Impulse für ein Umdenken und eine Neubestimmung von Sammlungen aus nichtwestlicher Perspektive auch in der deutschen Museumslandschaft verstärken“.

Dieser Impuls ist in „A Tale of Two Worlds“ deutlich spürbar. Einen Querschnitt durch die künstlerische Produktion aus einem anderen Kontinent von diesem Niveau betrachten, eine bekannte Sammlung unter neuem Blickwinkel erkunden und einen Beitrag zur Diskussion um die Zukunft des globalen Museums sehen zu können, sind gleich drei gute Gründe für eine Reise nach Frankfurt.

Bis 2. April 2018