Konzertprojekt „Original Sin“: Gegen die heilige Kleinfamilie
Susanne Sachßes Oma lebte mit Mann, Liebhaber und zwei Töchtern in einem Haus. Jetzt hat die Schauspielerin ihr ein Konzert gewidmet.
Das eigene Haus, bürgerliche Selbstverständlichkeit und kleinbürgerlicher Wunschtraum. Im kapitalistischen Westdeutschland wird nach dem Krieg eines ums andere Häuschen gebaut. Was eben noch Ackerland war, ist nun Vorstadt. Da reihen sich die Container der Kernfamilie aneinander. Darin mögen Papa, Mama, Kind ihr Heim finden – oder ihre Neurosen ausbilden und pflegen.
Im Osten Deutschlands entstehen zwar keine Einfamilienhäuser. Aber auch der sozialistische Wohnungsbau hat als Bewohner nicht etwa Kommunen von Kindern, Alten, Männern, Frauen, Arbeitern oder Künstlern im Sinn, sondern ganz wie im Westen – die Kleinfamilie, Keimzelle der Nation.
Susanne Sachßes Großmutter, Luise Brand, hatte einen anderen Plan. Als die Deutsche Demokratische Republik den „antifaschistischen Schutzwall“ zu bauen begann, ließ Luise Brand bei einem Dorf in Thüringen ein massives Haus errichten. Die Mauer, die Berlin in zwei Hälften teilte, war 30 cm stark, die Mauern von Luise Brands Haus maßen das Doppelte. Drinnen lebte die Frau mit ihrem Mann, ihrem Liebhaber, den beiden Töchtern und der Enkelin Susanne und sprengte die Grenzen der sozialistischen Moral.
„Staatsprogramm Familie – geheiligte Zelle des ruhmreichen Sozialismus / Sie wusste es besser / Die Familie muss weg“, heißt es im Text eines der Lieder von Sachßes Konzertprojekt „Original Sin“. Im Untertitel wird es als „A Noir Concert“ ausgewiesen. Darin wird die Geschichte Luise Brands in aller Knappheit so erzählt: „Husband 15 years older / Lover 15 years younger / 2 daughters / 2 dogs / 6 servants / Found a son in law / Made him her lover instead.“ Das Konzert, das die Schauspielerin der Großmutter und ihrem Familienmodell gewidmet hat, wird am Freitagabend im Silent Green Premiere haben, und bis Montag vier Mal aufgeführt werden.
Am Dienstagvormittag wird noch geprobt in der 17 Meter hohen, achteckigen Trauerhalle des Weddinger Krematoriums mit dem pyramidenförmigen Mansardendach, das ein freidenkerischer Verein 1909 errichten ließ. Heute ist es der zentrale Raum des Silent Green. Susanne Sachße steht mittendrin und ist so, wie man sich sie vorstellt, wenn man sie in den Filmen von Bruce LaBruce gesehen hat: Voll überwältigender Energie, aufmerksam, zugewandt, präsent, direkt.
Vor nichts Angst haben
„Sie hat mir durch ihre Lebenspraxis beigebracht, vor nichts Angst haben zu müssen“, sagt Sachße über ihre Großmutter. Die schärfte ihr ein: „Die Masse ist nur schön, wenn du aus ihr herausstichst.“ Die kleine Susanne trägt Nerzmantel über der Uniform der Jungpioniere. Und weil ihr der Fahnenappell auf die Nerven geht, spielt sie, ermuntert von der Großmutter, einen Ohnmachtsanfall. Nun muss sie nicht mehr in Reih und Glied stehen.
Einige von Sachßes Mitstreitern sind auch schon da. Mark Siegel, der einige Parts singen wird, und Jamie Stewart von der Band Xiu Xiu. „Original Sin“, das Konzert, geht einem Film voraus, der sich ebenfalls der Geschichte Luise Brands widmen soll. Jamie Stewart hatte zu Sachßes Drehbuch bereits die Filmmusik geschrieben, als sie ihn mit der Idee konfrontierte, vorab ein Konzert zum Thema zu machen. Sie schrieb 14 Texte, „das war sehr aufregend, hab ich zum ersten Mal gemacht“, und Stewart schrieb die Songs dazu.
Vaginal Davis kommt noch etwas verschlafen zur Tür herein. Jonathan Berger, der mit Şenol Şentürk das Bühnenbild und die Kostüme entworfen hat, sitzt in der Ecke und betrachtet sein Werk. Aus Bildern eines Super-8-Films, der während des Hausbaus entstand, wurde per Photoshop ein nicht ganz naturgetreues Panorama zusammengebaut, das den Raum umschließt. Das Haus ist noch im Entstehen, mitten in der Landschaft. Zweimal, etwas verschwommen, ist Großmutter Luise zu sehen.
„Ich finde an ihr toll, wogegen ich im Prinzip bin“
In die Fenster der alten Trauerhalle sollen Projektionen gebeamt werden. Benutzt wird dafür auch 8mm-Material aus dem Nachlass Luise Brands. Auch ihre Büste wird zu sehen sein. Ein weiteres Detail, das zum ambivalenten Verhältnis der Enkelin zur Oma beiträgt. „Sie hat sich diese Büste 1946 anfertigen lassen“, sagt Sachße, „als die Leute in Deutschland hungerten. Ich finde an ihr toll, wogegen ich im Prinzip bin. Etwa, dass sich jemand ein Haus mit dicken Mauern baut. In diesem Kontext aber wirkt es für mich subversiv. Das ist ein fast dialektischer Widerspruch, den ich zu ihr habe.“
Luise Brand lebte offen mit zwei Männern in ihrem Haus, das zugleich eine der wenigen privaten Arztpraxen war. Als ihr Mann zu alt war, übernahm ihr Liebhaber die Praxis. Ihr Mann lebte im ersten Stock, sie im Erdgeschoss.
Die Hausherrin hatte Bälle veranstaltet, damit ihre Töchter den richtigen Mann heiraten, erzählt Susanne Sachße. Eine der 8mm-Aufnahmen hat die Enkelin besonders fasziniert: „Die tanzenden Paare haben Zylinder auf. Da siehst du eine der Töchter tanzen mit einem jungen Mann. Dann werden Zylinder und Partner getauscht, und nun tanzt die Großmutter mit diesem jungen Mann, und das wird dann ihr Liebhaber.“
Als heranwachsendes Mädchen fand Sachße „irre, dass eine sogenannte Familie auch anders funktionieren kann“. Sie ist sich aber nicht erst seit heute bewusst, dass in dieser Konstruktion nicht alle gleichermaßen glücklich waren. Der Lieblingssong von Luise Brand war „Why must I be a Teenager in Love“, sie strebte nach Jugendlichkeit. Für die beiden Töchter war es schwer, mit einer Mutter zusammenleben zu müssen, die jünger als sie wirkte und alles dafür tat, dass ihre Enkelin Außenstehenden wie ihre eigene Tochter erscheinen musste.
Silent Green, Gerichtstraße 35., Berlin. Freitag, 8.12., bis Montag, 11.12., jeweils 20 Uhr
Enkelin Susanne genoss die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Aber sie liebte den Großvater mehr als den Lover der Oma, „weil ich nicht mochte, dass die mich als Tochter so ausgestellt haben. Das war eigenartig für mich, diese Doppelfunktion, Enkeltochter und Tochter.“
In den poetischen Texten, die aus verschiedenen Perspektiven von mehreren Erzählstimmen gesungen und gesprochen werden, deutet sich die Geschichte der Großmutter nur an. Sie wird mit allgemeineren Fragen in Verbindung gebracht: „Was war der Alltag einer arbeitenden Frau mit zwei Kindern in der DDR, wie wurde uns das gelehrt? Was ist der Unterschied zwischen einem Haus im Sozialismus und im Kapitalismus?“
„Original Sin“ lehnt sich an Horrorfilme an, die von Spukhäusern handeln, die ein kapitalismuskritisches Genre formulieren, wie Susanne Sachße findet: „Was macht Besitz mit dir? Wann kommen aus Rissen im Haus andere Körper durch?“ Susanne Sachße stellt sich die Großmutter als Wiedergängerin in einem Geisterhaus vor. Last, but not least gilt es in Bezug auf die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zu klären: „Was the party a church?“ Die Antwort lautet, kurz und korrekt: „Yes, but without music.“
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