heute in hamburg: „Obdachlose Frauen werden oft Gewaltopfer“
Andrea Hniopek, 49, arbeitet seit 20 Jahren in der Wohnungslosenhilfe. Sie leitet die Abteilung Existenzsicherung bei der Caritas Hamburg.
Von Adèle Cailleteau
taz: Frau Hniopek, obdachlose Frauen sind auf der Straße kaum zu sehen. Sind es viele?
Andrea Hniopek: Bei der Mehrheit der obdachlosen Frauen bemerkt man das gar nicht. Sie sind in der Lage, ihre Obdachlosigkeit zu kaschieren. Wir haben mal eine Fotoaktion gemacht und obdachlose und nicht obdachlose Frauen fotografiert. Man konnte keine Unterschiede sehen.
Wie schaffen die Frauen das?
Für sie ist es sehr wichtig, in der Öffentlichkeit nicht als Obdachlose betrachtet zu werden. Frauen haben enorme Ressourcen, sich zu organisieren. Sie nehmen bestehende Hilfe in Anspruch und schaffen es, ihre Kleidung zu waschen und sich zu pflegen.
Wie ist in Hamburg das Verhältnis von obdachlosen Männern und Frauen?
Wir haben keine genauen Zahlen dazu, aber wir gehen davon aus, dass die Mehrheit der Menschen auf der Straße Männer sind. Die meisten sagen, etwa 25 Prozent der Obdachlosen sind Frauen. Ich würde sagen, es sind wesentlich mehr. Aber immer noch weniger als die Hälfte – Tendenz allerdings deutlich steigend.
Warum?
Das liegt zunächst daran, dass mehr Einrichtungen extra für Frauen geschaffen werden. So werden obdachlose Frauen einfach sichtbarer. Hinzu kommt aber auch, dass Frauen immer selbständiger und damit gewissermaßen den Männern ähnlicher werden. Mehr Frauen haben eigene Einkommen, leben alleine und landen dann ohne Unterstützung der Angehörigen in der Obdachlosigkeit.
Was ist das Besondere daran, als Frau obdachlos zu sein?
Frauen sind im Gegensatz zu Männern auf der Straße mehr physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Viele erzählen, dass sie immer wieder Opfer von Gewalt werden. Wir schätzen, dass 90 Prozent aller obdachlosen Frauen mindestens ein Mal in ihrem Leben physische, insbesondere sexualisierte Gewalt erleben.
Ist das Hilfesystem an Frauen angepasst?
Die Hilfe ist eher männlich ausgerichtet. Erst seit 20 oder 30 Jahren gibt es eine besondere Hilfe für Frauen. Es gibt aber noch immer wenige Einrichtungen, die sich speziell an Frauen richten. Wichtig sind aber auch Einrichtungen, die sowohl Männer als auch Frauen offenstehen. Es ist wichtig, dass sich Frauen trauen, mit ihren Problemen im Privaten ein Stück in die Öffentlichkeit zu gehen.
Debatte „Mut gegen Armut: Obdachlosigkeit von Frauen“ mit Cansu Özdemir (Linke) und Andrea Hniopek: 18.30 Uhr, La Cantina, Hohenesch 68
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