Neues Album von Benjamin Clementine: Ein Außerirdischer spielt Cembalo
Er steht für mehr Theater im Pop: Der Brite Benjamin Clementine kommt mit seinem neuen, barocken Album „I Tell a Fly“ auf Tour.
Etwas surrt, eine gespenstisch gedoppelte Stimme wird allmählich zum summenden Chor. Dann setzt ein Klaviermotiv ein, während Rauschen verklingt. Aus dem Klavier wird ein Cembalo, eine helle Singstimme ahmt den Klang eines Synthesizers nach. Erst dann beginnt die Strophe, in der die Singstimme etwas von Fischen, die nicht schwimmen können, erzählt.
Vertraute Songstrukturen, um sich in „Farewell Sonata“, dem Auftaktstück des neuen Albums von Benjamin Clementine zurechtzufinden, man sucht sie vergebens. Gestisch betritt der 28-jährige Londoner in diesem Stück eine Theaterbühne. Tatsächlich war „I Tell a Fly“ ursprünglich als Musik fürs Theater konzipiert. Clementine bedient sich in seiner Musik auch ideenreich aus der Vorstellungswelt von Oper, Musical und der viktorianischen Theaterästhetik.
Als Clementine 2013 auf der internationalen Bühne des Pop auftauchte, hatte das selbst etwas von Theaterdonner. Mit seinem von Fans und Kritik begeistert aufgenommenen Debüt „At Least For Now“ erzählte er seine eigene Geschichte, davon, wie er Großbritannien verließ, um sich in Paris als Straßenmusiker durchzuschlagen.
Die Romantisierung seiner zeitweiligen Obdachlosigkeit ist für Clementine auf dem neuen Album kein Thema mehr. Nicht aus Eitelkeit oder weil er Fragen nach der Landstreicherei satt hat, in den neuen Songs betrachtet er die Gesellschaft als Ganzes.
Die Abschiedssonate
Dazu passt der Titel des ersten Songs ziemlich gut: „Farewell Sonata“ verdeutlicht einerseits die vielschichtige Inspiration zwischen Theater und Pop, aber auch den Bruch, den Album Nummer zwei einleitet. Musikalisch vollzieht er den Abschied mit ruhigen Piano-Akkorden und Progrock-Anleihen, ein Punk-Credo wird auch thematisiert: Bevor etwas Neues aufgebaut wird, muss Altes zerstört werden. Für den Briten Clementine schlägt sich diese Veränderung darin nieder, dass nun Musik die Hauptrolle übernimmt: „Auf meinem Debüt habe ich hauptsächlich gesprochen und gesungen, ansonsten war mir Musik nicht so wichtig. Nun erzähle ich Geschichten ausschließlich durch die Musik.“
Das Stück „Phantom of Aleppoville“ gab bereits Anlass zu Diskussionen. Wie in „Farewell Sonata“ vollzieht sich musikalisch ein apokalyptisch anmutender Bruch, hier allerdings nicht durch Progrock-Anleihen, sondern mit einem Cembalo, das erst verspielt ein Klaviermotiv umtänzelt, dann durch einen angsteinflößend klingenden Chor hoher Stimmen abgelöst wird. Er scheint das lyrische Ich zu verfolgen, geht dann in wohligen Klavierakkorden auf.
Dazu erzählt Clementine von seiner Kindheit im Londoner Stadtteil Edmonton, die von Mobbing geprägt war. In Anlehnung an Theorien des Psychoanalytikers Donald Winnicott vergleicht Clementine seine Kindheitserfahrungen mit traumatischen Erfahrungen von Kindern im syrischen Bürgerkrieg. Der Vorwurf, das Leiden der syrischen Zivilbevölkerung damit zu verharmlosen, zielt dabei aber in die falsche Richtung. Clementine urteilt nicht, Clementine verbildlicht nur. Er müsse nicht ins syrischen Aleppo reisen, um zu begreifen, dass dort blanke Not herrsche, sagt Clementine.
Vielmehr arbeite er daran, dieses unfassbare Leid anschaulich darzustellen: „Ich stelle mir vor, wie es ist, in den Schuhen anderer Leute zu stecken, um Extremsituationen zu verdeutlichen.“ Dies tut der Künstler auch, wenn er in einem anderen Song feststellt, Großbritannien seien die Flüchtlinge lästig: „By the ports of Europe / Free lion is hungry / Buffaloes are coming.“ Im Gespräch erklärt Clementine diese Textzeilen wie folgt: „Die Löwen sind böse, weil Büffel kommen. Löwen fressen Büffel, warum ärgern sie sich, wenn noch mehr Büffel kommen?“
Allegorien und Metaphern
Clementines Songtexte stecken voller Allegorien und Metaphern, muten an wie epische Gedichte. Clementine spricht, singt und schreit. Man sollte bloß nicht Sprechgesang dazu sagen. „Ich verabscheue HipHop“, mosert Clementine entrüstet. Auch mit der Gattung Spoken-Word-Poetry könne er überhaupt nichts anfangen. Wenn seine Lyrics wie gesprochen klingen, liege es nur daran, dass sein Vortrag alle Einsatzmöglichkeiten der menschlichen Stimme ausnutzt. Clementine singt energiegeladen, ähnlich kraftvoll ist seine Live-Performance.
Im Interview spricht er dagegen leise, sinkt immer tiefer in den Ohrensessel, in dem er es sich in einem Samtanzug bequem gemacht hat. Passend dazu trägt er ein Rüschenhemd, das wirkt wie aus dem Fundus eines Theaters. Klanglich spiegelt „I Tell a Fly“ Clementines flamboyante Erscheinung wider. Das Cembalo gibt vielen Songs eine barocke Note. Zusätzlich setzt Clementine nun auch Analoginstrumente ein. Mit einem Synthesizer ist ein zweiter Verwandter seines bisherigen Hauptinstruments, des Klaviers, zu hören.
Benjamin Clementine: „I Tell A Fly“ (Barclay/Caroline/Universal).
Live:18. 11., Elbphilharmonie, Hamburg; 19. 11., Philharmonie, München; 20. 11., Philharmonie, Köln; 21. 11., Philharmonie, Berlin; 22. 11., Konzerthaus, Dortmund.
Damon Albarn habe ihn dazu animiert, den Sound für Elektronik zu öffnen – und ihn auf den japanischen Synthie-Pionier Isao Tomita verwiesen: „Ich mochte elektronische Musik früher nicht, durch Tomita habe ich kapiert, wie vielfältig sie klingen kann.“ Clementines Tasteninstrumentierung besticht gerade im Mix, zwischen altertümlich-barock und spacig entsteht eine eigenartige Schnittmenge. So zum Beispiel bei „Jupiter“, wo Synthesizer die Textebene abstrakt flirrend nachzeichnen und dem Künstler dabei helfen ein Außerirdischer zu werden: „Ben’s an alien“ heißt es dort.
Die afrofuturistische Utopie, im Weltraum einen Ort für gesellschaftlich Ausgeschlossene zu schaffen, hat einen weltlichen Ursprung: „Alien of extraordinary abilities“ stand vor einigen Jahren auf dem US-Visum, der Brite wurde zum „Ausländer mit außergewöhnlichen Fähigkeiten“. Für Clementine bedeutet das Wort „alien“ vor allem, auf Durchreise zu sein, der Umherwandernde wird bei ihm auch zum „wonderer“, zu einem, der sich wundert.
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