piwik no script img

Turbulente Tage

Der Welt ein Beispiel geben – Ralf Höllers „Wintermärchen“ über den Beginn der Demokratie in Deutschland und die Münchner Räterepublik vor nun fast hundert Jahren

Demonstra­tionszug mit Kurt Eisner (sitzend im Fond des Wagens) am 1. 2. 1919 in München Foto: Ullstein-Bild

Von Jens Uthoff

Kurt Eisner sollte recht behalten. Im ganzen Land brodelt es im Jahr 1918: Massenstreiks im Deutschen Reich, Matrosenaufstände im Norden, vielerorts bilden sich Arbeiter- und Soldatenräte. Eisner, führende Figur der bayerischen USPD, ist in diesen Herbsttagen nach einer Haftstrafe gerade erst wieder in Freiheit. Reichstagswahlen stehen bevor, er zieht von Brauhaus zu Brauhaus, um aus dieser Stimmung politisches Kapital zu schlagen. Am 2. November 1918 erklärt er: „Es kommt nicht zur Reichstagswahl. Vor dem 17. November kommt die Revolution.“

Sechs Tage muss Eisner sich noch gedulden: Am 7. November wird König Ludwig III. in Bayern gestürzt, zwei Tage später endet die Monarchie in Deutschland. Eisner ist erster Ministerpräsident eines nun Freien Volkstaats Bayern. Es ist nicht nur der vorläufige Beginn der Demokratie in Bayern und Deutschland, es ist der Auftakt für turbulente 175 Tage, in denen im Freistaat eine Räterepublik errichtet werden soll. Und an deren Ende viele Tote stehen.

Bevor sich diese Geschichte 2018 zum 100. Mal jährt, hat der Autor und Historiker Ralf Höller die 175 Tage von München in seinem Buch „Das Wintermärchen“ zusammengetragen. Solitär in der deutschen Geschichte ist die bayerische Revolution deshalb, weil Schriftsteller, (Links-)Intellektuelle und Protagonisten der Schwabinger Boheme sich inmitten der Revolutionswirren befinden und zum Teil Ämter bekleiden werden. Ernst Toller und Gustav Landauer, Erich Mühsam und Rainer Maria Rilke, Lion Feuchtwanger und Oskar Maria Graf, Heinrich und Thomas Mann – sie alle sind irgendwie beteiligt, in Wort und Tat.

Ralf Höller: „Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919“. Edition Tiamat, Berlin 2017, 287 S., 20 Euro

Höller hat für „Das Wintermärchen“ (Revolutions-)Tagebücher gewälzt, Briefe, Artikel, Bekanntmachungen, Zeugnisse aller Art hinzugezogen. Aufgrund der Fülle des Materials, das existiert, ist diese Zeit bereits ziemlich gut dokumentiert – grundsätzlich Neues darf man also nicht erwarten.

Die Geschichte bleibt dennoch faszinierend, und so, wie Höller sie erzählt, entsteht ein kaleidoskopischer und amüsanter Blick auf die Revolutionszeit. Höller zeigt die Abnutzungskämpfe links von der SPD – zwischen KPD, USPD, Spartakisten und Anarchisten wie Erich Mühsam. Wie formulierte Eisner doch zwischen Hybris und Utopie: „Wir wollen der Welt das Beispiel geben, daß endlich einmal eine Revolution, vielleicht die erste Revolution der Weltgeschichte, die Idee, das Ideal und die Wirklichkeit vereint.“

Ministerpräsident Kurt Eisner wird Anfang 1919 von einem rechtsradikalen Adligen ermordet. Zuvor hatte er die Landtagswahl verloren und wollte zurücktreten. Bayern ringt um sein politisches System. Als die SPD Mitte März die Regierung bildet und zur parlamentarischen Tagesordnung übergehen will, konstatiert Gustav Landauer: „In der ganzen Naturgeschichte kenne ich kein ekelhafteres Lebewesen als die sozialdemokratische Partei.“ Und die Räterepublik wird am 7. April trotzdem eingeführt.

Lakonie zählt zu den Stärken von Höllers „Wintermärchen“. So, wenn er den Kampf um die Ämter in der neuen Räterepublik und den Fall des bayerischen Außenministers Franz Lipp schildert. Lipp wird in den ersten Amtstagen irr und erklärt Württemberg und der Schweiz den Krieg. Die sprunghaft unterhaltsamen Tage der Räterepublik weichen jedoch bald der Brutalität: Weißgardisten – Reichswehr und Freikorpsverbände – schlagen die Revolution nieder. Ihr Terror kostete etwa 1.000 Menschen das Leben.

„Ich kenne kein ekelhafteres Lebewesen als die sozialdemokratische Partei“

Gustav Landauer

Höller erzählt chronologisch und weitestgehend sachlich. ­O-Töne sind weniger üppig eingestreut, als der Untertitel suggeriert („Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution“), aber gut ausgewählt. Ausführlich geht er auf die historisch umstrittenen „Geiselmorde“ ein, Erschießungen von Mitgliedern der völkisch-antisemitischen Thule-Gesellschaft durch die räterepublikanische Militärpolizei. Auch wie die Russische Revolution in Bayern „ankam“, beschreibt Höller gut. Manches andere wird jedoch etwas zu schnell abgehandelt – wie der Zug von 100.000 Menschen durch München nach Eisners Tod etwa.

Der Ausblick am Ende („Wie alles weiterging“) gibt einem hingegen wieder eine gute Vorstellung davon, wie nach der Räterepublik aus Bayern erst eine „Ordnungszelle“ und später aus München die „Hauptstadt der Bewegung“ werden konnte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen