Gewalt gegen Obdachlose: Gewollte Unvollkommenheit
In Niedersachsen sind die Gewalttaten gegen Obdachlose dramatisch gestiegen. Eine Strategie dagegen ist von Polizeiseite aber nicht in Sicht.
Eine polizeiliche Strategie gegen die Übergriffe ist derzeit nicht in Planung: „Aufgrund der Gesamtentwicklung werden derzeit neben den allgemeinen Präventionsmaßnahmen keine besonderen polizeilichen Maßnahmen für diese Zielgruppe für erforderlich gehalten“, räumt Retter ein. Ohnehin sei „die Tendenz der Gewaltdelikte zum Nachteil von Obdachlosen wieder rückläufig“.
Die Ermordung einer jungen Frau, die mutmaßlich durch die Räumung der Wollepark-Hochhäuser in Delmenhorst in die Obdachlosigkeit geraten war, und die Tötung eines polnischen Obdachlosen am Messe-Bahnhof Hannover Laatzen hatten das Problem in den Blick gerückt: Während 2014 noch 38 Übergriffe gegen Menschen auf Platte erfasst wurden, waren es 2015 bereits 45, also ein Anstieg um 18,4 Prozent. Dabei muss man eine besonders hohe Dunkelziffer annehmen, denn es ist davon auszugehen, dass Obdachlose selten Strafanzeige erstatten.
Im Jahr 2016 schließlich waren in Niedersachsen 84 Gewalttaten gegen Obdachlose aktenkundig geworden, mehr als doppelt so viel wie im Jahr der Aufnahme dieses Sozialstatus-Markers in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Die wird zwar bundeseinheitlich erhoben, jedoch kommen die Länderpolizeien nicht gleichermaßen gut klar mit der Auswertung.
So gibt es aus Hamburg keine Daten: „Richtig ist“, so ein Sprecher der Polizei dort auf Nachfrage der taz, „dass die Opferspezifik erhoben wird.“ Es sei jedoch „nicht möglich, sie standardisiert auszuwerten“. Erstaunlich: Immerhin ist es im Gegenzug schon seit Einführung der PKS im Jahre 1953 niemandem schwer gefallen, das Tätermerkmal „ohne festen Wohnsitz“ gesondert aufzuführen. Allerdings hatte der Senat bereits im Februar eine ähnliche Anfrage der Linksfraktion als zu kompliziert zurückgewiesen.
Nordrhein-Westfalen, das einzige Bundesland, dem es gelingt, dieses offenbar komplizierte Opfermerkmal auch unmittelbar im Jahresbericht über die Kriminalitätsentwicklung abzubilden, verzeichnet einen starken Anstieg der Opferzahlen. 245 Obdachlose waren dort 2015 Opfer von Gewalt geworden, einer starb. Im Jahr 2016 kamen vier zu Tode, insgesamt wurden 305 Fälle registriert, ein Plus von 24,5 Prozent.
Die Zahlen sind ein Politikum
Volker Macke, Chefredakteur „Asphalt“
Diese Zahlen sind nicht angenehm zu lesen. Aber sie sind wichtig: Sie sind selbst bereits ein Politikum, und ihre Unvollkommenheit ist nachweislich gewollt. So haben SPD und CDU gemeinsam im Januar im Bundestag verhindert, dass eine von Grünen und Linke geforderte offizielle Statistik über Obdachlosigkeit in Deutschland begonnen wird.
Über deren Anstieg informieren nur Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe: Fürs aktuelle Jahr geht sie von 466.000 Betroffenen aus, gut zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Aber wie die sich auf die einzelnen Bundesländer verteilen, das lässt sich nicht gut in einer Prognose fassen. Folge: Es kann „nicht gesagt werden, ob sich die Gefährdung tatsächlich erhöht hat“, so Retter zur taz.
Geschweige denn wodurch: Oft wird der Blick bei der Ursachenforschung auf die von Obdachlosigkeit Betroffenen selbst gelenkt. „Es erscheint logisch, dass die Zahl der Straftaten steigt“, hatte Chefredakteurin Birgit Müller in der jüngsten Ausgabe des Obdachlosenmagazins Hinz & Kunzt angesichts steigender Betroffenen-Zahlen einen Hamburger Prozess kommentiert. Dort war in der vergangenen Woche ein Mann zu sechs Jahren verurteilt worden. Grund: Er hatte den Schlafsack eines anderen angezündet hatte – vermutlich aus Schlafplatz-Neid.
Konkurrenzdruck gibt’s, bestätigt auch Volker Macke, Chefredakteur der hannoverschen Straßenzeitung Asphalt. Dennoch: Er erfahre die Szene als „zutiefst solidarisch“. Als Quelle der Gewalt sieht er eher mehrheitsgesellschaftliche Verrohungstendenzen. „In Hannover wird politisch regelrecht Kampagne gemacht“, sagt er. Ständig werde darüber nachgedacht, wie Obdachlose vom Raschplatz, dem Treffpunkt der Szene, vertrieben werden könnten.
Und in Leserbriefen und Online-Kommentaren wimmele es von „Ideen, welche Durchgriffsmöglichkeiten man noch nutzen könnte“. Lebensbedrohliche Attacken mit Pflastersteinen wie im Frühjahr und der Tod in Laatzen „gehen definitiv nicht aufs Konto der Szene“.
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