: Fisch mit Spürsinn
Seit 30 Jahren leistet das Label-Konglomerat Piranha Pionierarbeit im Global Pop. Zum Jubiläum spielt die Legende Mulatu Astatke
Von Jens Uthoff
Die Antwort auf die Frage, wie es das Berliner Global-Pop-Konglomerat Piranha Records & Publishing bis zum 30-jährigen Betriebsjubiläum schaffen konnte, hat Christoph Borkowsky schon vor Jahren gegeben. Borkowsky, Mitgründer von Piranha und bis heute eine der treibenden Kräfte des Labels und der Agentur, sagte im Jahr 2000 gegenüber dieser Zeitung: „Es gibt für die Verdammten dieser Erde fünf Königswege zu Schönheit und Reichtum: Sport, Prostitution, Kriminalität, Revolution – und Musik.“ Die ersten vier Wege hätten bekanntlich so ihre Nachteile, die Musik aber, die trage „all diese Risiken und Nebenwirkungen zusammen“ in sich.
Vom Königsweg Musik wollte Borkowsky dennoch oder deshalb nie ablassen – so sind die mehr als 150 Albumveröffentlichungen, vielen Konzerte und Festivals, die Piranha in die Wege leitete, zu erklären. Borkowsky, Jahrgang 1948, gehört neben Clubbetreiberin Brigitte Bieg zur Piranha-Gründergeneration. 1987 zunächst als Plattenlabel ins Leben gerufen, lag der Schwerpunkt von Beginn an auf sogenannter Weltmusik. Global Pop, würde man heute sagen.
Beiname: „der Große“
Berühmt wurde das von Piranha initiierte „Heimatklänge“-Festival: 1988 ging es erstmals über die Bühne, als Westberlin Kulturhauptstadt Europas war. In der Folge zog es jährlich bis zu 100.000 Besucher in die Stadt. Wie Borkowsky, dessen Beiname übrigens Akbar („der Große“) ist, einmal sagte, war es das „langsamste Festival der Welt“. Statt die Musiker im Stundentakt über die Bühnen zu hetzen, setzte man während der mehrtägigen Veranstaltung auf einen entspannten Zeitrahmen. 2006 floppte das zeitgleich zur WM laufende Festival inmitten des „Sommermärchens“. Es sollte die letzte große „Heimatklänge“-Veranstaltung sein.
Dennoch hat sich Piranha durchgebissen. Inzwischen firmiert das Unternehmen unter Piranha Arts und hat mehrere Standbeine. Neben dem Label und dem Booking organisieren die Betreiber von Berlin aus die Global-Pop-Messe Womex, die gerade im polnischen Katowice zu Ende ging. Außerdem stellen sie ein internationales Treffen für die Klassik-, Neoklassik- und Avantgarde-Szene – die Classical:Next, die 2018 in Rotterdam stattfindet – auf die Beine und sind seit 2016 Träger des hiesigen Karnevals der Kulturen.
Zum Ende des Jubiläumsjahrs spielt am heutigen Mittwoch im Gretchen mit der äthiopischen Jazz-Legende Mulatu Astatke ein alter Freund des Labels. Die von Astatke angeleiteten „Ethio Stars“ haben ihre Soul-Reggae-Jazz-Fusion schon 1992 auf Piranha veröffentlicht. Sich selbst feiert das Label mit einer in diesem Jahr veröffentlichten Kompilation. „Can I Get A Witness“, heißt der – im Titel Marvin Gaye zitierende – Sampler. Zu hören sind Künstler wie das serbische Boban Markovic Orkestar, deren albanischen Brass-Brüder-im-Geiste Fanfara Tirana oder die senegalesische Rapperin Sister Fa.
Gratulieren darf man Piranha für die archäologische Arbeit aus drei Dekaden. Viele später hochgeschätzte Künstler hat man zuerst im Piranha-Kontext wahrgenommen: Der große nubische Fusion-Musiker Ali Hassan Kuban trat außerhalb seiner ägyptischen Heimatregion erstmals beim „Heimatklänge“-Festival auf. Die simbabwische Sängerin und Lamellofonspielerin Stella Chiwese gehörte zu den ersten Künstlerinnen überhaupt, die bei Piranha veröffentlichten. Und auch die Roma-Brassband Fanfare Ciocărlia, die heute in ganz Europa große Säle füllt, kam über das Label auf den deutschen Markt. Veröffentlichungen wie das jüngst erschienene Album des Semer Ensemble – das an die Musik des einst von den Nazis zerschlagenen jüdischen Labels Semer erinnert – zeigen, wie man Kulturgeschichte wach hält.
Nur keinen Staub ansetzen
Die Piranha-Familie hat ihren Anteil daran, dass Berlin ein hervorragender Standort für Folk aus aller Welt geworden ist. Das Label war Vorreiter für spätere Gründungen wie Oriente Musik oder die auf Südosteuropa fokussierte Plattenfirma Asphalt Tango Records. Eng verbunden war man mit dem Mitte der Neunziger gegründeten Radio Multikulti und dem Haus der Kulturen der Welt, wo auch die erste Womex-Veranstaltung stattfand.
Das Erstaunlichste an Piranha ist, dass den Machern auch nach 30 Jahren im Musikbetrieb wenig Verstaubtes anhaftet. Im Gegenteil, da tauchen stetig neue Formate wie ein Kulturaustausch zwischen Berlin und Thessaloniki („Octopus Garden“) auf. Oder ein internationales Treffen für Musiker auf Kuba („Primera Linea“).
Borkowsky übrigens begann schon in den Siebzigern, damals als Ethnologe, sich für Klänge aus aller Welt zu interessieren. Zwei Jahre hatte er in Afrika geforscht, die Musik auf den Straßen, in den Nächten inhaliert, und „als ich – zurück in Deutschland – an der Atmosphäre der Universitäten zu verzweifeln drohte, merkte ich, wie wichtig Musik, verschiedene Musik für die geistige und körperliche Gesundheit ist.“ Möge der Piranha also fit bleiben.
1. 11., Gretchen, 20 Uhr: Mulatu Astatke
Various Artists: „Can I get a Witness? 30 Years, 30 Artists, 30 Titles“ (Piranha Records/!K7)
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