heute in hamburg: „Marx und Keynes werden verstümmelt“
Ulrike Herrmann, 57, schreibt über die Finanz- und Eurokrise in der taz. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau und hat an der FU Berlin Geschichte und Philosophie studiert.
taz: Frau Herrmann, ist die Wirtschaft Wissenschaft oder Ideologie?
Ulrike Herrmann: Eindeutig Ideologie. Man tut, als ob die Wirtschaft aus einem einzigen Mensch bestehen würde, der alles wissen würde, wie eine Art Gott. Es ist natürlich völliger quatsch, aber es wird angenommen. So ist das sehr bequem für die Privilegierten. Wenn wir sagen, dass es einen Markt gibt, der von allein zum Gleichgewicht tendiert, spielen dann Themen wie Macht oder Verteilung keine Rolle mehr. Die Volkswirtschaftslehre ist hingegen eine Geisteswissenschaft, wie die Soziologie oder die Geschichtswissenschaft. Statt mathematische Modelle zu bauen, sollte man sich einfach die Empirie angucken.
Wird das nicht gemacht?
Fast gar nicht mehr. Große Denker der Volkswirtschaftslehre wie Adam Smith, Karl Marx oder John Keynes waren Empiriker. Sie haben sich angeguckt, wie es wirklich war. Große Konzerne und Gewerkschaften spielen bei ihnen eine wichtige Rolle, während die sogenannten Neoklassiker in einer mathematischen Illusion leben. An der Universität werden Smith, Marx und Keynes aber nicht oder nur verstümmelt gelehrt. Es ist das einzige Fach, wo die Gründer nicht unterrichtet werden.
Gibt es eine Chance, dass sich das ändert?
Es gibt kritische Studenten, die sich als „Plurale Ökonomik“ zusammengeschlossen haben. Sie haben drei Kritikpunkte: Man würde an der Universität nicht über Geld lernen, auch nicht über alternative Theorien oder über die Geschichte des Faches. Es liegt daran, dass fast alle Professoren Neoklassiker sind, die normierten Unterricht geben. Der herrschende Mainstream hat eine unglaubliche Macht. Weltweit gehören 85 Prozent der Ökonomen auf Lehrstühlen oder Sachverständigenräte dem Mainstream.
Wird der Mainstream infrage gestellt?
Die Finanzkrise von 2008 ist ein großer Knick gewesen. Die Neoklassiker hatten sie nicht kommen sehen und hatten keine Lösung. Die Politik musste die Theorie von Keynes übernehmen, was klargemacht hat, dass 80 Jahre „Forschung“ in der Volkswirtschaftslehre völlig umsonst waren. Schlimmer noch: Diese neoklassische Theorie hat die Krise erzeugt. Sie hat zur Deregulierung der Finanzmärkte geführt, nach dem Motto: Finanzmärkte wissen immer alles besser. Die Ökonomen haben enorme Schäden verursacht, weltweit in der Höhe von Billionen. Erst produzieren sie enorme Schäden und dann ändern sie ihre Lehre nicht.
Interview Adèle Cailleteau
„Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ von Ulrike Herrmann: 19 Uhr, Hamburger Frauenbibliothek, Grindelallee 43; Eintritt: 7 /erm. 5 Euro.
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