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Scheitern als Chance

Anlässlich seines Geburtstags erinnert das Lichtblick-Kino an den viel zu früh verstorbenen Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief

„Chance 2000“: 6 Millionen Arbeitslose (es kamen nur 100) sollten den Wasserspiegel des Wolfgangsees um 2 Meter (Schlingensief) oder 3 Zentimeter (wie die SZ ausrechnete) heben Foto: Bettina Blümner

Von Detlef Kuhlbrodt

Als die Volksbühne neulich besetzt war, wurde oft an die wilde Zeit vor zwanzig Jahren erinnert. Damals als Christoph Schlingensief seine tollen Stücke inszenierte, bei denen jede Aufführung anders war, als er durch Skandale – „Tötet Helmut Kohl“, – RedakteurInnenbeschimpfungen, großartige Selbstinszenierungen und eine kluge Bündnispolitik (Harald Schmidt, Alfred Biolek, Wolfgang Joop, Tom Tykwer usw. als Freunde und Förderer von „Chance 2000“) immer mehr Leute um sich sammelte; als seine Projekte große Ereignisse waren und einen Rattenschwanz an Gesprächen, Texten und Filmen nach sich zogen.

Mit einem Schlingensief-Abend erinnert das Lichtblick-Kino an den viel zu früh verstorbenen Regisseur und Aktionskünstler, der selbst 46 Filme realisiert hatte. Einer der bekanntesten ist „Terror 2000“, unter anderem mit Peter Kern, Alfred Edel und Udo Kier. Sehr expressiv und trashig verarbeitet der Film tagespolitische Ereignisse – das Geiseldrama von Gladbeck, 1988, die Überfälle auf Asylbewerberheime nach 1989, den ganzen Nachwenderassismus. Was Anfang der 90er ein lebendiger, wütend-trashiger Kommentar zum Zeitgeschehen war, ist nun irgendwie stillgestellter Teil eines Werkes, das bis zu seinem Tode im Fluss war. Damals war „Terror 2000“ als pubertärer Trash beschimpft wurden, nun gehört der Film zur Kulturgeschichte der 90er Jahre. Indirekt führte der Film zu seinem Engagement an der Volksbühne. An dem Buch hatte auch Oskar Roehler mitgearbeitet und Schlingensiefs erste Inszenierung – „Hundert Jahre CDU“ – war im Grunde genommen ein Remake von „Terror 2000“.

„Chance 2000“ war Schlingensiefs wohl bekannteste theatralische Aktion. Ein erster, „Scheitern als Chance“ – betitelter Film über das Wahlkampfspektakel von 1998 erschien 1999 und ähnelt, dem neuen Film „Chance 2000 – Abschied von Deutschland“ von Kathrin Krottenthaler bis darauf, dass der alte Film eine leicht nervende Leierkastenmusikbegleitung hat und 30 Minuten kürzer ist. Für den neuen Film hatte die Regisseurin mehr als 100 Stunden Archivmaterial von Sibylle Dahrendorf, Christoph Schlingensief, Alex Grasseck, Stefan Corinth und Erhard Ertel gesichtet und in chronologischer Folge montiert.

Vom Startschuss im Zirkus Sperlich im Prater, am 13. März 1998 bis zur Wahlkampfveranstaltung im September des Jahres in der Volksbühne; vom Baden im Wolfgangsee, Helmut Kohls Urlaubsort, bei dem 6 Millionen Arbeitslose, wenn sie denn gekommen wären (es kamen nur 100) badend den Seespiegel um 2 Meter (Schlingensief) bzw. 3 Zentimeter (wie die SZ ausrechnete) hätten heben sollen, zum ebenfalls im Prater beheimateten „Hotel Prora“, einer Übernachtungsaktion sozusagen. Von der Gründung und Zulassung der Partei über ihre Spaltung und Wiedervereinigung bis zu ihrem Konkurs usw.

Man sieht die AktivistInnen und vor allem den Chance-2000-Chefideologen Dietrich Kuhlbrodt bei den Arbeiten, die bei einer Parteigründung und -fortführung anfallen, man sieht Axel Silber, den Kanzlerkandidaten, herumwuseln und die anderen großartigen behinderten KandidatInnen wie Werner Brecht, Achim von Paczensky, Kerstin Grassman beim Drehen der tollen Wahlspots usw. Man sieht Schlingensief in diversen Talkshows oder auf Wahlkampftournee in diversen Städten und Elfriede Jelinek, wie sie Schlingensief ein Plüschtier schenkt.

„Ich gelobe, dass alles auf der gleichen Ebene geschieht und dass auf gleicher Ebene auf­ein­ander geschossen wird“, sagt Schlingensief am Anfang. „Es ist schön, ratlos zu sein“, erklärt Carl Hegemann später. Immer wieder wird die Parteihymne gesungen: „Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen wird, ist der Blick in eine schöne Gegend: Freund, Freund, Freund!“, werden die Slogans „Beweise, dass es dich gibt“, „Wähle dich selbst“, „Töte dich selbst“, „Scheitern als Chance“ präsentiert.

Einerseits ist es schön, den hyperaktiven, meist gut gelaunten Münster so lebendig zu sehen, andererseits wirkt der Film dann doch ein bisschen wie ein Starporträt, in dem für Kleinigkeiten, wie meine Lieblings-Chance2000-Hymne „Wir wollen trauern“, die Zusammenarbeit mit Karl Nagels APPD oder auch das schließlich Wahlergebnis (3.206 Erststimmen, 28.566 Zweitstimmen) kein Platz ist.

Als Drittes gibt es noch den neuen Film „Massow“ von und mit Edita Bermel, Susanne Bredehöft und Artur Albrecht, der am Originalschauplatz und Wohnort des damaligen Filmteams unter Verwendung der Originaltöne von „Terror 2000“ gedreht wurde.

Christoph Schlingensief Geburtstags-Special: Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77, 24. 10., 18 Uhr

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