Die Wahrheit: Die Wahrheit über Frankreich
Was macht diese Nation so einzigartig, so unverwechselbar, so authentisch? Müde, aber glücklich unterwegs im Grande Hexagon.
Die Eckdaten dieses sechseckig aufgestellten Landes sind schnell erzählt: Meistbesuchtes Land der Welt, doch nur Platz 21 von 188 auf dem Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen – weit hinter Macau und Liechtenstein und ganz kurz vor Belgien. 66.991.000 Einwohner bevölkern das Hexagon, macht 103 pro Quadratkilometer: kräftig mehr Platz als umgerechnet bei uns, dem geerbten Freund. Käse liegt in Frankreich in der Familie und ist schon lange vor Jeanne d’Arc Kulturgut gewesen. Apropos Kultur: Bei der Grande Nation handelt es sich selbstverständlich um eine Hochkultur.
Fin aber nun mit Landeskunde – und hinein in die Niederungen dieser semipräsidentiellen Demokratie, die einst im Kolonialwarengeschäft wenig erfolgreich operierte. 72 Stunden war die Wahrheit mit einem eierschalenfarbenen Citroën unterwegs im Land des bröckelnden Messias Macron und seiner vifen Adepten. Hier ist ihr Report aus allen vier französischen Himmelsrichtungen.
50° 13’ N, 1° 38’ O, Hallenbad von Le Crotoy, Kasse
Die Stimmung am Ortsrand Richtung Dunkerque ist, trotz der zur rentrée am 1. September drastisch erhöhten Preise, „gut“, berichtet uns die drahtige Dame im Kassenhäuschen. „35-Stunden-Woche, wenig Betrieb, ich kann nicht klagen“. Chantale Muftinger saugt an ihrer E-Cigarette von Galeries Lafayette. Kurz nach ihrem Dienstbeginn vor 27 Jahren sei Estelle Macron, die jüngere Schwester von Emmanuel, zum „Kurzbadetarif“ hier geschwommen. „Très charmante!“ Wir verabschieden uns von Chantale Muftinger, fragen nach einem guten Käseladen für die Fahrt und machen uns über die Départementstraße D940 zügig vom kargen Acker. Unser nächstes Etappenziel ist die Bretagne im Westen von Frankreich.
48° 23’ N, 4° 29’ W, Apotheke zum „Lapin blanc“, Brest
Irgendwas muss mit dem Käse aus dem Supermarkt von Le Crotoy (Tipp von Chantale Muftinger) nicht in Ordnung gewesen sein. Zitternd und mit blauen Lippen verlangen wir vom vollbärtigen, smart wirkenden Apotheker Édouard Philippe ein Gegenmittel. Er reicht uns ein Glas Wasser und einen Gutschein für ein Getränk im „Le Gold“ an der Ausfallstraße nach Concarneau. Als wir uns mit letzter Kraft bedanken, winkt Philippe ab: „Beten sie lieber für unser Land!“ Minuten später, als wir im „Le Gold“ landen, wissen wir, warum: Der Laden gehört Marine Le Pen, die hinterm Tresen steht und lautstark Rotwein gegen Gutscheine ausschenkt.
Nach zehn Minuten, wir sind auf Arbeit, verlassen wir das „Le Gold“ – zumindest der Rotwein, ein 2003er Chateau Marcel Pagnol, war vorzüglich. 40 unserer 72 Stunden Recherchezeit sind nun vorbei: ein wirklich heißes Eisen haben wir noch nicht angefasst. Na ja, wenigstens ist die Sache mit dem verdorbenen Käse aus Le Crotoy ausgestanden! Ab also nach Südfrankreich, unser eierschalenfarbener Citroën freut sich wie Bolle auf Platanen und Pastis und auf den zwielichtigen Millionenmoloch Marseille, unser nächstes Etappenziel.
43° 17’ N, 5° 22’ E, Stadtteilbibliothek, Marseille
Ohne Bibliothekskarte geht hier gar nichts. Laurent Legrand ist streng mit uns, auch unser 3D-Journalistenausweis lässt ihn unbeeindruckt. Ob wir noch nichts vom Ausnahmezustand in Frankreich gehört hätten? „Sie glauben ja gar nicht, wie viele Menschen hier Medien entleihen und sie dann nicht zurückgeben. Ganz schlimm ist es bei Hörbüchern auf Provenzalisch. Und wenn diese Leute dann doch auftauchen, dann haben sie ihre Bibliothekskarte nicht dabei. So wie Sie.“
Laurent Legrand ist vom Berufsleben gezeichnet. Wir spüren das und verlassen ohne weitere harte Gegenfragen die auf den ersten Blick einladend lichte Stadtteilbibliothek. Marseille, diese rattige Stadt, kann uns auch weiterhin gestohlen bleiben! Die restlichen 17,5 Stunden Zeit verwenden wir lieber auf den Osten der Republik, auf den Grand Est.
48° 41’ N , 8° 21’ O, Pole Emploi, Forbach Zentrum-Ost
Hier sind wir richtig! Jetzt kann die knallharte Recherche zu Frankreich, auf den letzten Metern und nahe Saarbrücken, endlich losgehen. Immer noch nichts zu Emmanuel Macron notiert. Scheint die Franzosen nicht mehr zu interessieren. Ob er auch bald Apotheker wird, wie Édouard Philippe in Brest?
Wir zücken nun im Arbeitsamt von Forbach, wo die letzten Bergwerkskumpel schon lange weg sind, unseren Kugelschreiber, zerren einen Schreibblock aus der Verpackung, schürzen unsere dürstenden Lippen zu einer für die Leserschaft relevanten Frage. Auf Französisch! Fließend! „La France: pourquoi?“, fragen wir schließlich den sexy Pförtner am Empfang. „Pourquoi pas?“, kommt es schnippisch zurück.
Aber natürlich, warum sind wir da während unserer Recherche nicht selbst draufgekommen: Einfach einzig, unverwechselbar, authentisch die Franzosen! Müde, aber glücklich und voller landestypischer Eindrücke erreichen wir mit unserem tapferen, eierschalenfarbenen Citroën am frühen Abend die Grenze zum Saarland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trumps Krieg gegen die Forschung
Byebye Wissenschaftsfreiheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten