Die Wahrheit: Auf, Kinder des Vaterlandes!
Die französische Woche der Wahrheit beleuchtet heute intensiv das Revolutionsjahr 1789 und die fatalen Folgen für die große weite Welt.
Mein ganzes Leben lang ging es um die Französische Revolution. In der Schule fing das schon an: Französische Revolution hier, Französische Revolution da. Sogar in Mathe! Diese verfluchten Dreisatz-Aufgaben: „Der Henker kann in 15 Minuten 30 böhmische Jakobiner köpfen. A] Wie lange braucht der Henker für 6.000 Adelige? B] Wie viele Girondisten, Bischöfe und Sonstige schafft der Henker in 18 Stunden?“ In Bio ging es ausschließlich um Skrofulose – die Hautkrankheit des Ketzerpublizisten Jean Paul Marat – und im Nebenfach Handwerken wurde nur der Unterrichtsstoff „Verschiedene Arten der Beschichtungen von Badewannen“ angeboten.
Beim Theaterkurs musste ich ein altes, hungerndes Weib spielen, das um Brot bettelte. Dabei wäre ich viel lieber Charlotte Corday gewesen, um wenigstens einmal sagen zu können: „Ich habe einen Mann getötet, um hunderttausende zu retten.“ Außerdem spielte Tobi Tollkötter, in den ich unsterblich verliebt war, den Pfaffen, der Charlotte vor ihrer Hinrichtung tröstend in seinen warmen Arm nahm. Aber ausgerechnet Petra Reihmann, die mir schon bei „Cyrano de Bergerac“ die Hauptrolle weggeschnappt hatte, durfte die Corday geben. Und Pfaffe Tobi hatte sie viel zu lange tröstend in den Arm genommen. Völlig unglaubwürdig.
Ich wäre lieber zur Schule gegangen, wenn es da Mengenlehre oder irgendwas über Kastanien und Grillen gegeben hätte. Auch Häkeln oder Backen hätte ich gern gelernt. Oder etwas über Sinus, Cosinus und Analytische Geometrie in vektorieller Darstellung. Wie gern wüsste ich heute Bescheid über semipermeable Membranen, Osmose und Desoxyribonukleinsäure. Ich hätte alles darum gegeben, wenn die Lehrer mich zu Mendelschen Gesetzen, Drosophila menalogaster oder Lackmuspapier gelehrt hätten.
Selbst beim Bürgerball im Sportunterricht ging es immer nur um „FranzRev“, wie ich das verhasste Thema bald abkürzte. Bei diesem Abwurfspiel wurden die Mannschaften in Jakobiner und Sansculotten aufgeteilt. Jeder Revoluzzer, der getroffen war, wurde umgehend guillotiniert. Klar, dass wir dieses Spiel deshalb nur einmal spielen konnten. Ich selbst bin nur noch am Leben, weil mich niemand in sein Team gewählt hatte.
Damit ich nicht ganz verschont blieb, musste ich hundert Baguettes an die Tafel malen. Und im Englischunterricht mussten wir „Der eingebildete Kranke“ auf Französisch auswendig lernen, weil der Englischlehrer seit seinen Ferien in Frankreich Französisch besser fand als Englisch.
Bei der obligatorischen jährlichen Beichte beim zuständigen Pfaffen (kurz bevor wir déchristianisiert wurden) war es eine beliebte Strafe für uns armen Sünder, dass wir für jede einzelne Sünde direkt in der Kirche viermal hintereinander lautstark „Die Marseillaise“ oder „Die Gedanken sind frei“ schmettern mussten. Und weil wir viele Sünder waren, die alle immer sehr viel gesündigt hatten, herrschte in der Kirche stets ein so abartiger Krach, dass es hin und wieder vorkam, dass einer der Beichtlinge heimlich viermal hintereinander lautstark „Die Internationale“ schmetterte, worüber wir dann immer kichern mussten.
Nach dem Abi ging es dann an der Uni weiter: „Köpfe der Französischen Revolution“ lautete das Thema meiner ersten Vorlesung, die ich selbst freiwillig gewählt hatte – weil ich mittlerweile durch meine Vorgeschichte so konditioniert war. Dabei lernte ich nur langweiligen Kram. Zum Beispiel, dass George Washington gegen Adam Weishaupt, den Gründer der Illuminaten, ausgetauscht worden war und dass deshalb die Stadt Washington genau den gleichen Bauplan hat wie Karlsruhe – eine Stadt, die bekanntlich noch heute von Illuminaten, Freimaurern, Tempelrittern und französischen Revolutionären beherrscht wird. Der Professor spielte mit uns den Sturm auf die Bastille nach – und zwar vor Ort in Paris. Zur Belohnung dafür wurde der gesamte Kurs von Charles de Gaulle für zwei Jahre auf die Teufelsinsel eingeladen, und alle bekamen den ganzen Tag nur Camembert und Cidre.
Nachdem ich das überstanden hatte, zog ich mich zurück, rauchte Gauloises, verfasste einige Schriften zum Thema „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und übersetzte die Werke des Marquis de Sade in Esperanto. Derzeit strebe ich eine konstitutionelle Monarchie in Karlsruhe-Neureut an und bin damit mehr als ausgelastet. Letzteres lenkt mich auch von meinem Kummer darüber ab, dass ich nie gelernt habe, wie man eine Sauce béarnaise macht.
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