: Dokumentierte Dystopie
Auf dem Filmfest Hamburg werden mit „Drift“, „Pre-Crime“ und „Der Mittelpunkt der Erde“drei Hamburger Produktionen mit sehr unterschiedlichen Realitätsebenen gezeigt
Von Wilfried Hippen
Seit Mittwoch wird in Hamburg wieder das Filmfest gefeiert. Und eine Konstante in der wieder riesigen Programmauswahl ist die Auslese der neuesten Hamburger Produktionen, die in verschiedenen Programmblöcken wie „Hamburger Filmschau“, „Freihafen“ oder „Kaleidoskop“ gezeigt werden. Drei davon blicken aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Realität.
„Pre-Crime“ von den Hamburgern Monika Hielscher und Matthias Heeder (8. 10., 12 Uhr Uhr, Metropolis) ist eine aufwendige, auf englisch für den internationalen Markt gedrehte Dokumentation über die Entwicklung der Verbrechensvermeidung durch digitale Überwachung. Das Prinzip ist aus der Science-Fiction-Erzählung „The Minority Report“ von Philip K. Dick und deren Filmadaption mit Tom Cruise bekannt: In der dort geschilderten Zukunft wird die Polizei Überwachungstechniken haben, mit denen Computer ein Verbrechen entdecken können, bevor es überhaupt ausgeführt ist.
Der Dokumentarfilm von Hielscher und Heeder zeigt, wie weit sich unsere Realität dieser Dystopie inzwischen angenähert hat. Sowohl in den USA als auch in Europa gibt es inzwischen Programme, die anhand der vielen digitalen Daten, die über jeden von uns im Netz zu finden sind, Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeiten von zukünftigen Verbrechen machen.
Den Spuren dieser Entwicklung eines immer perfekter und gleichzeitig absurder werdenden Überwachungssystems folgen die Filmemacher nach Chicago, Paris, Kent und München. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch in der Zukunft ein Verbrechen begehen wird, wird etwa danach berechnet, wer in seiner Nähe wohnt und was er googlet. So geriet eine Frau in den USA schon deswegen auf eine Liste mit Terrorverdächtigen, weil sie das Wort „Rage“ in eine Suchmaschine eingegeben hatte. Dabei war sie nur ein Fan der gleichnamigen Rockband.
Im Film erzählen zwei junge, sicher nicht zufällig dunkelhäutige Opfer der digitalen Verfolgung davon, wie sie alleine durch logarithmische Berechnungen in das Getriebe dieses Systems gerieten. Mit nachgestellten Spielszenen, unter anderem von Polizeikontrollen auf nächtlichen Straßen, entfernen sich die Filmemacher leider vom sachlichen Grundton, der „Pre-Crime“ inhaltlich bestimmt.
Und auch auf die Rahmenhandlung mit einem weisen alten Mann, der an einer felsigen Meeresküste sitzt, dabei schön analog mit Filzstiften in einem Heft malt und dazu bedeutungsschwangere Fragen wie „What if freedom was just an illusion?“ von sich gibt, hätten Hielscher und Heeder besser verzichten sollen. Aber bei diesem Film ist der Inhalt wichtiger als der Stil und auf dieser Ebene überzeugt er durch eine aufwendige Recherche und viele Aussagen von Spezialisten, wie Kriminalisten, kritischen Systementwicklern und einem Londoner Ex-Polizist, der vom „racial profiling“ spricht.
In „Der Mittelpunkt der Erde“ von Thomas Oswald (7. 10., Metropolis) geht es deutlich ruhiger zu. Der Hamburger Filmemacher ist in die deutsche Provinz gegangen und hat in Schleswig-Holstein und Bayern, Thüringen und dem Sauerland vier 16-Jährigen beim alltäglichen Leben zugeschaut. Ein Jahr lang hat er sie mit der Kamera begleitet und dabei ist es ihm gelungen, deren Lebensgefühl authentisch und einfühlsam einzufangen.
Der träumerische Leif, die ehrgeizige Lea, die bodenständige Johanna und der chaotische Noel erzählen davon, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, wie ihre Eltern sie behandeln und was ihnen Angst macht. Oswald, der selbst die Kamera führte, zeigt, wie sie Autofahren lernen, Musikhören, mit Freunden Döner essen oder die ersten Schritte ins Berufsleben machen. Da passiert nichts dramatisches und im Grunde doch alles, denn man kann miterleben, wie sich die Persönlichkeiten der vier immer deutlich ausprägen.
Die Eltern kommen dabei wenig oder gar nicht zu Wort und auch Geschwister tauchen höchstens auf den Porträtaufnahmen vor den Elternhäusern auf, mit denen Oswald die einzelnen Kapitel beginnen lässt.
Man spürt die Neugierde des Filmemachers, der diese Jugendlichen und ihre Befindlichkeiten so zeigt, als wären sie geheimnisvolle Fremde, bei denen jede Geste voller Bedeutungen ist. Dabei ist ihm das Kunststück gelungen, seinen Protagonisten zugleich sehr nah zu kommen und doch eine angemessene Distanz zu wahren, sodass sein Film nie voyeuristisch wirkt. Man hat immer das Gefühl, die vier geben genau soviel von sich preis, wie sie selber wollen.
Wenn so Lea von einer Boygroup schwärmt oder Noel sich beklagt, dass er mit 30 Euro Taschengeld im Monat keine großen Sprünge machen kann, ist das nicht banal, sondern existenziell.
„Drift“ von Helena Wittmann (6. 10., Metropolis) wird zwar im Programm als „Spielfilm“ eingeordnet und es gibt darin auch zwei Darstellerinnen, sie „spielen“ aber kaum. Wittmann verzichtet radikal auf eine Dramaturgie im herkömmlichen Sinne. Der Film beginnt auf der winterlichen Insel Sylt, wo zwei Freundinnen ein Wochenende verbringen, sich warm angezogen auf dem Balkon ihrer Ferienwohnung unterhalten und Spaziergänge am Strand machen.
Dies wird in langen statischen Einstellungen gezeigt, in denen die beiden Frauen langsam an den Rand gerückt werden und das Meer, der Strand und der Horizont immer mehr Raum einnehmen. Die beiden machen sich dann auf viel größere Reisen. Die eine kehrt aus Hamburg in ihre Heimat Argentinien zurück, die andere überquert auf einem Segelboot von der Karibik aus den Atlantik. Wittmann zeigt sie entsprechend gerne in Bewegung, wählt lange Kamerafahrten oder Aufnahmen auf dem Atlantik, bei denen schließlich nur noch der gewaltige Wellengang zu sehen ist und das Meeresrauschen immer stärker elektronisch verfremdet wird. „Experimentalfilm“ wäre wohl die passendere Gattung.
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