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Der HausbesuchBlau ist seine Lieblingsfarbe

Isabella Brawata und Thorsten Büchner sind blind. Seit 18 Jahren sind sie ein Paar. In Marburg, der Blindenstadt Deutschlands, sind sie zu Hause.

„Das Augenpaar eines Mannes, er sieht nach ilnks, nach rechts. Um das Auge schließt sich ein Fadenkreuz.“ So hören Isabella Brawata und Thorsten Büchner den „Tatort“ Foto: Bernd Hartung

Thorsten Büchner (37) und Isabella Brawata (39) sind seit 18 Jahren ein Paar. Sie über ihn: „Er steht gerne im Mittelpunkt“; er über sie: „Isabella ist mutiger.“

Draußen: Blauer Himmel, Vogelflug. Farbige Blätter fallen schon von den Bäumen. Frauen, jetzt wieder in festen Schuhen, klappern rhythmisch über Asphalt. Es riecht erdig, riecht nach Herbst.

Drinnen: Über noppigen Boden und kurze Stufen, entlang eines kühlen Flurs gelangt man in die Zweizimmerwohnung des Paares. Im Wohnzimmer stehen dicht: Esstisch, Couch, TV-Regal.

Im Regal: Willy-Brandt-Biografie, Kaffee-Pads. Außerdem: ein Stapel Pfannen. „In der Küche war kein Platz mehr“, sagt Thorsten. „Schlimm ist, wenn wir Besuch haben“, sagt er. Der bringe schnell alles durcheinander.

Wände: Dass über der Couch zwei Miró-Bilder hängen, haben die beiden vergessen. Sie haben die Bilder nie gesehen. „Die haben Thorstens Eltern ausgesucht“, sagt Isabella, damit leere Wände Besucher nicht irritieren.

Wo kommen sie her? Thorsten ist Saarländer, Isabella ist in Danzig geboren und in Hamburg aufgewachsen. Er kam mit dreizehn, sie mit zwanzig Jahren nach Hessen. Grund: Die Deutsche Blindenstudienanstalt (blista) hat hier ihren Sitz.

Blindenstadt: In Marburg leben sie gern. Hier haben öffentliche Plätze Blindenleitsysteme und die allermeisten Ampeln machen Geräusche. In der Stadt leben, auf die Einwohner gerechnet, so viele Sehbehinderte wie in Deutschland sonst nirgendwo. Nach dem Studium der Politikwissenschaft (er) und der Psychologie (sie) sind sie geblieben.

Verlieben: Kennengelernt haben sie sich in der Oberstufe. Isabella habe „oft kluge Sachen gesagt“, vor allem im Religionsunterricht, sagt Thorsten. „Nichts Religiöses, um Gottes Willen, Kritisches.“ Hätte sie nichts gesagt, wäre sie ihm nicht aufgefallen: „Aus der Ferne verlieben“, das ging nicht. „Man muss schon miteinander reden.“ Isabella erinnert sich, dass Thorsten unnahbar war, schwärmt dann von seinem Parfum („ck1“).

Heute arbeitet er in der Öffentlichkeitsarbeit, sie im Reha-Beratungszentrum der Blindenstudienanstalt. Isabella habe als Kind eigentlich davon geträumt, Polizistin zu werden, sagt sie. „Aber die Verfolgungsjagden, die man sich als Teenie vorstellt, waren dann doch nichts.“

„Schlimm ist, wenn wir Besuch haben. Der bringt alles durcheinander“, sagt Thorsten Büchner Foto: Bernd Hartung

„Tatort“-Fans: Gemeinsam mit Thorsten besucht sie stattdessen Krimilesungen – oder hört Audiotranskriptionen von Fernsehserien an. Thorsten spielt eine vor: „Das Augenpaar eines Mannes, er sieht nach links, nach rechts, geradeaus. Um das rechte Auge schließt sich ein Fadenkreuz. Das Fadenkreuz reißt auf, die verschwommene Silhouette eines Mannes. Er hält sich die Hände schützend vors Gesicht. Rennende Beine auf nassem Asphalt, weiße Linien formieren sich zu einem Fingerabdruck. ‚Tatort‘.“

Rampenlicht: Thorsten stehe gerne in der Öffentlichkeit (Isabella sagt: „im Mittelpunkt“). Er gesteht, etwas eitel zu sein. Deshalb sei er in seiner Freizeit auch Schauspieler. Schon in der ersten Klasse, erzählt Thorsten, sei er Klassensprecher gewesen.

Der Sozialdemokrat: Heute ist er Politiker. Als zweiter Vorsitzender der Marburger SPD vertritt er seine Partei im Stadtparlament. Seine Themen: Energie, Umwelt, Verkehr. Und Sozialthemen? „Natürlich habe ich ein Interesse daran, dass kaputte Ampeln wieder piepsen, aber ich interessiere mich eben auch für andere Dinge.“

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Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Umgang: Wenn er bei Sitzungen Handzeichen auszählen muss, flüstert ihm jemand das Ergebnis zu. „Wenn ich im Stadtparlament zum Rednerpult gehe und nicht weiß, wo ich hin muss, dirigiert mich manchmal das ganze Parlament: Weiter links, weiter rechts.“

Und sie?: Thorsten sagt, Isabella sei „vom Auftreten her vielleicht die Zurückhaltendere“. Er überlegt. Aber „mutiger“, „unerschrockener“, sagt er dann.

Festhalten: „Als Kind stellte ich fest, dass andere etwas können, was ich nicht kann“, sagt sie. „Etwas, das ich mir zu Nutzen machen konnte.“ Als Frühchen bekamt sie im Brutkasten lange Sauerstoff. In der Folge erblindete sie.

Lesen mit den Fingern Foto: Bernd Hartung

Einsicht: Nicht akzeptieren wollten das: die anderen. Isabella erzählt, wie ihre Eltern sie zu einem Wunderheiler brachte. Weil Eltern behinderter Kinder „nach jedem Halm“ griffen.

Migration: Als sie Polen verließen, wuchs die Hoffnung: „Meine Eltern dachten, in Deutschland kann ich wieder sehen.“ Isabella erinnert sich daran, wie sie mit dem Schiff von Danzig nach Hamburg fuhr und bei der Ankunft das Lied „Live is Life“ lief. Sie an Freiheit dachte. Gleichzeitig: Angst, Unbehagen, fremde Gerüche, fremde Sprache. Andere konnten sich mit Händen und Füßen verständigen, „über Mimik“, Isabella konnte das nicht.

Die Weltenbummlerin: Am Wochenende fahren die beiden mit dem Reiseanbieter Tour de Sens nach Lissabon. Von der Fahrt nach Andalusien musste Isabella Thorsten im letzten Jahr erst überzeugen, sagt er. Allein schon wegen der Reisegruppe, die man „die ganze Zeit an der Backe“ hat.

Granada: Wenn er heute zurück denkt, sagt Thorsten: „Granada hat mir gleich gefallen, weil viele Leute draußen waren, obwohl es draußen kalt war.“ Beide kommen ins Schwärmen über die Alhambra. Isabella erzählt, dass sie heimlich die arabischen Inschriften ertastete. Thorsten ist überzeugt, dass die Alhambra blau sein muss.

Blau, blau, blau: Weil Thorsten als Kind Farben sehen konnte, weiß er, dass Blau seine liebste ist. Die Farbe dominiert entsprechend den Wohnraum: Blaue Wände, blaue Küchenzeile – „Ich glaube, die Couch ist auch blau.“

Frustration: Thorsten wusste schon früh, dass sich seine Netzhaut lösen und er irgendwann blind sein würde: „Ich habe immer gesagt, wenn ich den Fußball auf dem Bildschirm nicht mehr erkennen kann, ist es vorbei.“ Das war in der Pubertät der Fall – und frustrierte ihn. „Wenn ich etwas nicht gleich finde, werde ich auch heute noch schnell pampig“, sagt er, „Isabella ärgert das nicht so. Vielleicht ist das aber auch eine Frage des Temperaments.“

Farberkennung: Die beiden haben eine App. Isabella hält das Smartphone an den Unterarm, „silber“, funktioniere nicht immer, sei aber praktisch. Wenn Thorsten zu einer SPD-Sitzung ein rotes Hemd tragen wolle, erkenne die App das zum Beispiel.

Wie sie Merkel sehen? Thorsten zieht mit den Händen die Mundwinkel nach unten. Isabella sagt, dass sie sich eher männlich kleide. „Das soll sich aber geändert haben“, sagt Thorsten. „Hört man jedenfalls.“

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1 Kommentar

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  • Interessanter Beitrag, danke taz.

    Es ist immer spannend, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Und vor allem die Normalität und Stärke dieser beiden hervorzuheben und daraus keinen "Mitleidsartikel" zu machen.