: Geboren am 9. November
FEIERN Der Schriftsteller Jochen Schmidt hat nun mal genau an diesem Tag Geburtstag. Ein Tagebuch
geb 1970, lebt als Autor in Berlin und schrieb die Bücher „Triumphgemüse“, „Müller haut uns raus“, „Meine wichtigsten Körperfunktionen“ (alle Beck-Verlag) und „Schmidt liest Proust“ (Voland und Quist). Gerade erschien „Gebrauchsanweisung für die Bretagne“ (Piper). Foto: T. Jockel
VON JOCHEN SCHMIDT
9. 11. 70 – Um 4 Uhr nimmt meine Mutter ein Taxi ins Krankenhaus Friedrichshain, von wo man sie am liebsten weiter in die Charité schicken würde, weil der Schichtwechsel kurz bevorsteht. Im Krankenhaus herrscht nachts Stromsperre, im Licht einer Kerze von der letzten Weihnachtsfeier betrachtet die Hebamme den Mutterkuchen. Um 5 nach 7 ist alles vorbei, es ist stockduster. Meine Mutter will mir „keinen so verrückten Namen“ geben wie „Mario“, „Jens“ oder „Sven“. „Nach Dr. Schneeweiß“ soll gemeinsames Stillen die Milchproduktion anregen, deshalb sitzen 20 Mütter auf Gummiuntersetzerringen von Wäscheschleudern in einem Raum. Einen solchen aufblasbaren Ring können wir für unsere Schleuder erst Jahre später ergattern.
9. 11. 75 – Ich bekomme eine Windmühle aus Papier mit einem Stöckchen zum Halten.
9. 11. 78 – Ich gehe in die Herbert-Baum-Oberschule. Im Geburtstagspaket meiner Hamburger Oma ist die Seifenblasenflüssigkeit ausgelaufen, die Bazooka-Joe-Kaugummis sind jetzt ungenießbar. Mein erster geschriebener Satz lautet: „Wir haben einen neuen Fernseher.“
9. 11. 79 – Wir sind in eine Neubauwohnung in Berlin-Buch gezogen, wo das warme Wasser „aus der Wand“ kommt. „Hoch soll er leben, anner Decke kleben …“ singt die Familie am Morgen. Es wird wie immer die Geburtstagskassette eingelegt: „60 Jahre und kein bisschen weise.“ Und dann die Schlümpfe mit „Alles Gute zum Geburtstag…“ In der Schule zählt man auf, was man bekommen hat und was davon aus dem Westen war.
9. 11. 80 – Auf den fünf Minuten Schulweg lauern sie überall hinter den Gardinen, weil sie wissen wollen, was ich geschenkt bekommen habe. Das Viertel ist so gebaut, dass man von jedem Fenster aus alles überblicken kann. Ich versuche, mich selbst zu spielen, ohne dass man es mir anmerkt. Mehrmals sehe ich auf meine erste Armbanduhr, die ich heute bekommen habe.
9. 11. 86 – Ich gehe jetzt auf eine neue Schule am Frankfurter Tor und muss um 6 Uhr aufstehen, es ist stockduster. Wir feiern ein wenig, bevor ich zur Bahn muss.
9. 11. 89 – Ich bin seit einer Woche in Magdeburg kaserniert. Ich werde vor der Kompanie beglückwünscht und grüße vorschriftsmäßig mit: „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik.“ Meine Mutter schickt mir ein Paket mit Süßigkeiten, das ich beim Schreiber durchsehen lassen muss. Am Abend erscheinen die EKs, um sich ihren Anteil zu holen. Ich bekomme ein Telegramm von zu Hause, mit einem Blumenmotiv. Um 22 Uhr ist Nachtruhe. Ich habe Brandschutzdienst und werde deshalb nachts geweckt, um die Gebäude der Kaserne zu kontrollieren. Morgens sagt jemand: „Die Mauer ist offen.“ Ein paar Stunden Schlaf wären mir lieber.
9. 11. 90 – Ich wohne jetzt im Prenzlauer Berg. Eine Freundin habe ich auch endlich, aber sie ist noch schwieriger als ich. Weil ich kein Telefon habe, muss ich meine Eltern anrufen gehen, damit sie mir gratulieren können. Das Paket meiner Mutter liegt schon seit ein paar Tagen auf dem Tisch. Seit der Maueröffnung war ich dreimal in Westberlin. Für mein Begrüßungsgeld, um an einer Zelle im Wedding zu telefonieren und für eine Peter-Greenaway-Kinonacht in Neukölln. Ich studiere Mathematik und komme zu nichts.
9. 11. 94 – Ich studiere inzwischen Romanistik und bin seit zwei Monaten in Brest. Meine Mutter schickt mir weiße Schokolade, weil ich die vor ein paar Jahren mal mochte. Meine Freundin telefoniert den ganzen Abend mit meinem Nachfolger in Berlin und beschwert sich anschließend bei mir, dass er so gefühllos sei. Sie hört immer eine Platte von Blumfeld, die er ihr geschenkt hat. Wir haben eine Einraumwohnung ohne Bad und mit Außenklo. Ich tippe auf dem Boden sitzend auf einer Typenradschreibmaschine, eigentlich nur weil das Geräusch so klingt, als wüsste ich, wie es weitergehen soll in meinem Leben.
9. 11. 95 – Ich studiere immer noch und schäme mich deswegen. Inzwischen habe ich mit Spanisch begonnen, weil ich in Brest eine Spanierin kennen gelernt hatte und ihr nachgereist war. So schnell wie möglich will ich wieder ins Ausland.
9. 11. 97 – Bei den Bildern der Maueröffnung im Fernsehen kommt mir der Gedanke, dass man mal etwas über die DDR schreiben müsste.
9. 11. 98 – Das Französischstudium schleppt sich seit Jahren ins Ziel. Ich habe 40 Ablehnungen für ein Romanmanuskript gesammelt. Um Kohlen zu sparen, habe ich mir vorgenommen, erst nach meinem Geburtstag mit dem Heizen anzufangen. Ich trage zwei Wollpullover und nachts eine Pudelmütze.
9. 11. 99 – In der Literaturwerkstatt Pankow habe ich den Open Mike gewonnen und hoffe, dass es bei meiner Hilfskraftstelle an der Uni niemand merkt, weil es mir peinlich ist zu schreiben. Im Sommer war ich zu einem Sprachkurs in Moskau und anschließend in Bulgarien. Die slawischen Sprachen begeistern mich jetzt mehr.
9. 11. 00 – Mein erstes Buch „Triumphgemüse“ ist erschienen. Meine Freundin aus Sofia prophezeit mir: „Ein Frau wird kommen und macht dein Leben schwarz und du begegnest Selbstmord.“
9. 11. 02 – Am Geburtstag bin ich zu einer Lesung in Graz. Die anderen Autoren wundern sich, dass ich „drüben“ sage, weil sie auch drüben sagen, aber das Gegenteil meinen. Kaufe von einem Afrikaner das Obdachlosenblatt mit einem Text über ihn. Sein Vater ist zu Hause von islamischen Fundamentalisten ermordet worden, deshalb ist er hier.
9. 11. 03 – Ich bin jetzt Vater, aber wir leben nicht zusammen. Nach 13 Jahren bin ich in eine Vorderhauswohnung gezogen und fühle mich ganz benommen von der Möglichkeit, ein zweites Zimmer zu betreten. Zum Märkischen Museum, eine Mauerfalllesung. Eine Reporterin will unsere Meinung zur Musealisierung der Mauerstücke. Ich sage, dass ich immer gern in Museen gehe. Jana Simon liest über „Beat Street“, Schaumstoffkosmonauten und Fruchteis in den 80ern. Meine Altersgenossen lesen mir aus Büchern vor, die mein Leben zum Inhalt haben.
9. 11. 04 – Ich habe unseren alten Schwarz-Weiß-Fernseher aus dem Intershop abgeschafft und gucke „King of Queens“ jetzt in Farbe. Wie soll man noch wie Christa Wolf schreiben, wenn einem Sitcoms völlig reichen?
9. 11. 05 – Im Sommer mein erster Sprachkurs in Rumänien. Heftiges Liebesleid wegen einer Slowenin. Im Paket von meiner Mutter ist wieder weiße Schokolade, Bücher über die Flucht aus Ostpreußen und ein Fotoalbum, das meine stilistisch traurigsten Epochen dokumentiert. Sobald die Fotos bunt werden, ist nichts mehr von der Poesie meiner Existenz zu erkennen. Die verschiedenen Arten, sein Haar zu massakrieren. Immer noch staune ich über die Wohnung. Das schöne Gefühl, spät noch einmal die Balkontür zu öffnen, so kalt ist es gar nicht. Ein Blatt schleift über den Balkon, das Rauschen der Autos klingt fast so beruhigend wie damals nachts die ferne Autobahn in Buch.
9. 11. 06 – Meine Tochter schreit, weil sie ihren Bauklötzeturm eingerissen hat. Auf der Post fragen sie, ob ich „grünen Strom“ wolle. „Nein.“ „Sie wollen nichts für die Umwelt tun?“ Mein Proust-Pensum gelesen. Frage mich, ob man die Glückwünsche der Mutter auf dem Anrufbeantworter auf dem Klo sitzend abhören darf. Bei der „Chaussee der Enthusiasten“ ist die Heizung kaputt. Das Publikum singt für mich, die Bar spendiert einen Gin. Ich hetze nach Hause, weil mich meine Pankowerin noch besuchen wollte. In einem Monat wird sie Schluss machen, irgendwie weiß ich das schon.
9. 11. 07 – Meine Mutter ruft an, um 7.05 Uhr sei damals die Nachgeburt gekommen, da müsste ich doch wohl schon wach sein. Abends Hallenfußball in Marzahn. „Hermann-Matern-Straße“ heißt jetzt „Poelchau-Straße“. Kann mich nicht satt sehen an den nächtlich beleuchteten majestätischen Plattenbauten im Nebel. Um Mitternacht liegt im Briefkasten ein Laubblatt mit einem Geburtstagsgruß von der Pankowerin.
9. 11. 08 – Ich feiere bei mir und kann kaum noch stehen, als die ersten Gäste kommen. Eine CD der Bolschewistische Kurkapelle. „Der Clan der Sizilianer“, Adrian Tomine auf Englisch. Eine Geschonneck-Filmbox, „Geschichten aus der Murkelei“. Aus Tschechien Tubensahne, Oblaten und Disko-Kekse. Ein russisches Klapp-Kinderbuch. Sandmännchen-DVDs, „Das Haus am Eaton Place“. Die Lebenserinnerungen von einem Großonkel. Buntstifte. „Der Zauberer von Oz“. „Winnie Pooh“, „Berlin“ von Jason Lutes. Ein Schokokuchen, „Die Langerud-Kinder“. Ein Ausmalbuch mit Waffenmotiven. Nah an der Ohnmacht, zwei Dolormin.
9. 11. 09 – Nachmittags meine Tochter von der Schule holen, wo es riecht wie in meiner Schule damals. Ob sie mir zum ersten Mal etwas schenkt? Am meisten Freude macht mir zur Zeit unser buntes Windrad für den Balkon, das ich als Kind hatte und das es in „Onkel Philips Spielzeugladen“ zu kaufen gab.
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