WIEDERENTDECKUNG Der laut Untertitel „authentisch alpinistische“ Roman „Der Berg Analog“ des Franzosen René Daumal: An Steinschlag soll man sich gewöhnen
Eine Bergtour zum höchsten Berg der Welt. Zu einem Berg, der an einem Ort liegt, der nicht nur unbekannt ist, sondern unter gewöhnlichen Bedingungen auch unzugänglich und vor allem unsichtbar. Sonst wäre das Gebilde vermutlich schon mal jemandem aufgefallen.
Von dieser Idee lässt sich der Franzose René Daumal in seinem Romanfragment „Der Berg Analog“ leiten und schickt eine bunte Entdeckertruppe auf die Reise zu der entlegenen Erhebung. Das ist eine einigermaßen verrückte Konstruktion. Und leicht verrückt wirkt auch das Personal, das Daumal um seinen Ich-Erzähler herum versammelt.
Da ist der geistige Anführer der Alpinisten, Vater Sogol. Seine Wohnung betritt man nicht einfach durch die Eingangstür, vielmehr verlangt dieser einen Parcours über Hauswand und Dach und bewirft seine Kletterfreunde zu Trainingszwecken schon mal mit Kartoffeln: „Zur Gewöhnung an Steinschlag!“ Ihm schließt sich unter anderem die Gebirgsmalerin Judith Pancake an, desgleichen Benit Cicoria, „Pariser Damenschneider. Klein, elegant und Hegelianer“.
Gefährliche Drogen
Wie der Erzähler ist Sogol überzeugt von der Existenz des Bergs, der zunächst eine reine Hypothese bleibt, eine höhenbedingt ermöglichte Verbindung zwischen Himmel und Erde. Im Gelehrtenkreis wird dann einigermaßen nüchtern über Raumkrümmung und andere physikalische Phänomene debattiert, mit deren Berechnung der mysteriöse Berg aufgespürt werden soll.
Die Schiffsreise gelingt nach Wunsch, die Insel, auf der der Analog liegt, wird erreicht. Man beginnt den Aufstieg. Dann reißt die Erzählung ab: Daumal starb 1944 im Alter von 36 Jahren an einer Tuberkuloseerkrankung. Seinen Roman hat er nicht einmal zur Hälfte beenden können.
René Daumal, 1908 in den Ardennen geboren, gründete schon in seiner Jugend mit Freunden die Gruppe der „Simplistischen Brüder“, aus denen in Paris später „Le Grand Jeu“ hervorging. Mystik und Esoterik gehörten, unter revolutionärer Perspektive, zu ihren vornehmlichen Interessen, man probierte gefährliche Drogen, pflegte regen Austausch mit den Pataphysikern um Alfred Jarry.
Während der Arbeit an „Der Berg Analog“ stand Daumal insbesondere unter dem Einfluss der Lehren des Esoterikers George I. Gurdjieff, was Daumals Rezeption als ernstzunehmender Schriftsteller stark beeinträchtigte, so Maximilian Gilleßen im Nachwort. Zu Unrecht, wie das Buch belegt. Es ist „ein nicht-euklidischer, im symbolischen Verstand authentischer alpinistischer Abenteuerroman“, wie der Untertitel lautet. Sein Duktus wirkt denn auch weniger esoterisch als auf anarchische Weise intellektuell.
Großzügig Unvollendetes
Mit der von Gilleßen übersetzten Neuausgabe setzt der junge Berliner Verlag Zero Sharp sein Programm fort, randständige, weitgehend vergessene französische Schriftsteller der fantastischen oder Science-Fiction-Tradition einem deutschsprachigen Publikum wieder zugänglich zu machen. Bei Daumal zeigt sich: Selbst großzügig Unvollendetes kann begeistern, in seinem quasiwissenschaftlichen Duktus zum Denken anregen und in seiner Unabgeschlossenheit die Fantasie kräftig beflügeln – im Anhang sind Daumals Notizen und Fragmente zum geplanten Fortgang der Handlung abgedruckt. Das alles sujetgerecht gesetzt in Pata-Font, einer Type, deren Form sich innerhalb bestimmter Varianten immer wieder verändert.
Das „Ende“ zu verraten, sei in diesem Fall übrigens gestattet. Der Roman endet mit den Worten: „Ohne sie (die Wespen, Anm. d. Red.) konnte eine ganze Zahl von Pflanzen, die bei der Befestigung lockeren Bodens eine wichtige Rolle spielen“, – und Schluss, Komma inklusive. Was will man mehr?
Tim Caspar Boehme
René Daumal:„Der Berg Analog“. Aus dem Französischen von Maximilian Gilleßen. Zero Sharp, Berlin 2017, 192 Seiten, 18 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen