: Die Welt als Kiez, der Kiez die Welt
Hemmungslose Animation, Sex und Sambarhythmen: Die Berliner Volksbühne brasilianisiert sich mit „Krieg im Sertão“ des Teatro Oficina Uzyna Uzona aus São Paulo. Es verhandelt die Geburt des modernen Brasilien als exzessives Mitmachdrama
VON EVA BEHRENDT
Fressen statt vernichten, einverleiben statt auslöschen, integrieren statt abstoßen. Der Dramaturg Matthias Pees, der das Teatro Oficina letztes Jahr im angeslumten Viertel Bela Vista in São Paulo für die Recklinghausener Ruhrfestspiele entdeckte, hatte auch gleich eine interessante Kulturtheorie im Gepäck: das brasilianische Konzept der Anthopophagie – der Menschenfresserei. Demzufolge haben sich nicht nur die Indianer des südamerikanischen Kontinents kannibalisch gegen europäische Missionare zur Wehr gesetzt. Auch das moderne Brasilien bedient sich an den Büffets fremder Menschen, Sprachen, Religionen und Ökonomien und hat sich daraus seine postnationale Identität zusammengefuttert: eine Kulturtechnik, die der Soziologe Ulrich Beck als „Brasilianisierung“ über Europa hereinbrechen sieht.
Im 24-Stunden-Opus „Krieg in Sertão“ des 68-jährigen Theatergurus Zé Celso, dessen Ensemble Uzyna Uzona aus São Paulo jetzt an der Berliner Volksbühne den Spielzeitauftakt bestreitet, wird zwar kein Mensch, aber symbolisch so einiges gefressen. Zur gemeinschaftlichen Aufwärmübung pflücken sich nicht nur die rund vierzig Schauspieler, darunter faltige Greise, Kinder und Teenager, das zuckende Herz aus der Brust, um es sogleich pantomimisch zu vertilgen: auch das Berliner Publikum, sonst zuverlässig mitmachresistent, tut es den Brasilianern nach.
Selten war so viel ungebremstes Kollektivgefühl und Emotionstheater in der zwar Exzessen nicht abgeneigten, aber doch eher intellektuellen Volksbühne, und es ist kein Zufall, dass es nicht hier produziert, sondern aus dem fernen, derzeit in der deutschen Theaterszene heftig beschwärmten Brasilien importiert wurde. Hemmungslose Animation, große Chöre, Sex und Sambarhythmen: Die Brasilianer dürfen das. Oder wäre umgekehrt denkbar, dass ein deutscher Regisseur die Geburt der deutschen Nation aus der stolzen Perspektive der vernachlässigten Provinz inszeniert?
Eine solche patriotische Perspektive nahm der durchaus fortschrittsgläubige Ingenieur und Augenzeugenreporter Euclides da Cunha ein, als er in seinem populären Großessay „Krieg in Sertão“ (1902) vom dramatischen Krieg der jungen Republik gegen die Siedlung Canudes in der bitterarme Wüstenregion Sertão berichtete, in der sich unter der Führung des charismatischen Predigers Antônio Conselheiro Indianer, Sklaven und Europäer einer rücksichtslosen Modernisierung verweigerten. Zugleich schrieb da Cunha damit im Stil der antiken Historiker eine Genesis der brasilianischen Nation, voller Landeskunde, Sozialgeschichte und Heimatliebe. Das heroische Projekt des Teatro Oficina besteht nun darin, da Cunhas Wälzer in nahezu enzyklopädischer Vollständigkeit auf die Bühne zu bringen, einschließlich aller abstrakten Ausführungen zu Fauna, Flora und Geologie.
So übersetzt das Ensemble im ersten Teil am ersten Abend die großen Flüsse in bunte Tücher, die Breitengrade in Gummitwist. Es schiebt sich zusammenzuschroffen Gebirgsmassiven und ergießt sich rennend ins Meer, es kauert schweigend als Wüstenwindstille und brüllt stampfend Gewitter, es formt seine Glieder zu Bromelienblüten und die Lippen zum brünstigen Vogelschrei. In solch handfesten Massenszenen darf auch das Publikum Teil der Gemeinde werden und auf die steile Piste schlüpfen, die Elisete Jeremias und Luis Paetow vom Rang bis auf die Hinterbühne durch den ganzen Bühnenraum gebaut haben. Auch wenn Zé Celso bereits im ersten Teil den Erdgeist Lulu durch einen Anzugträger brutal vergewaltigen lässt und sich so inhaltlich auf die Seite der Fortschrittsgegner und „Sertanejos“ schlägt, hat er sich als guter Kannibale selbstverständlich die Technik des „heiligen Feindes“ einverleibt: Fünf große Videowände flankieren die Bühnenpiste, das brasilianische Kamerateam steht dem von Frank Castorf in nichts nach, geschickt wird das Live-Material mit vorproduzierten Naturaufnahmen gemischt. Wenn diese Bilder sich über die Tänzer ergießen, wenn Percussions, Klavier und Bass richtig loslegen, wenn das ganze Ensemble im Chor da Cunhas blumige Wissenschaftsprosa singt, dann muss die Füße schon fest auf den Boden stemmen, wer sich nicht mitreißen lassen will. Kein Wunder, dass Zé Celso von einem Stadiontheater träumt – vom Kiez- zum Welttheater.
Ähnliches hat die Volksbühne im Sinn, wenn auch bislang ohne Stadionfantasien. Seit das berühmteste Kieztheater der Republik sein Recklinghausen erlebte und sich selbst von „Routine und Selbstgefälligkeit“ (Castorf über Castorf) bedroht sieht, flieht es immer öfter auf exotisches Terrain. Das lässt sich zwar prima mit Globalisierungstheoremen und als anthropophage Kulturtechnik rechtfertigen oder gleich, wie auf der Pressekonferenz zum Spielzeitbeginn, mit der guten alten „internationalen Solidarität“ begründen. Im Berliner Theaterbetrieb bleibt dieser Programmstrang ein Nachrückphänomen – schließlich sind schon das Hebbeltheater und die Berliner Festwochen dem internationalen Gastspiel verpflichtet. Es sei denn, die Volksbühne richtet das brasilianische Mahl nicht nur an, sondern beißt auch hinein.
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