: Bullerbü ist überall
DIE NEUE PROVINZ Bunt ist Berlin und voller Vielfalt. Aber ist es noch eine Stadt? Oder haben die neuen Städter aus Berlin ein Dorf gemacht?
■ wurde 1957 in New Jersey/ USA geboren und wohnt seit 1983 in Berlin. Er hat als Künstler und Architekt gearbeitet und malt Aquarelle und Ölbilder, zu denen ihn sein Wohnumfeld inspiriert.
VON UWE RADA UND ALKE WIERTH
In der Neuköllner Friedelstraße schrumpft die Metropole auf Niedlich-Niveau. Blömken heißt ein Laden, in dem es wollene Kinderklamotten gibt oder rote Gummistiefel mit weißen Pünktchen. Ein zweiter Laden – Sönneken – hat gerade in Kreuzberg aufgemacht. Stadtluft macht frei? Von wegen! Bullerbü-Berlin ist im Kommen.
Neukölln ist überall: Hätte Big Buschkowsky, der Bürgermeister mit Kultstatus, die neue heile Kinderwelt in der Großstadt gemeint, wäre ihm der Applaus auch von liberaler Seite sicher gewesen. Denn neben den türkischen und arabischen „Parallelgesellschaften“ gibt es auch die Parallelgesellschaft der Bullerbü-BerlinerInnen.
Da sehen Muttis aus wie ihre Töchter, fahren in Hollandrädern mit Gänseblümchen im Lenkerkorb spazieren und spendieren dem urbanen Nachwuchs einen Besuch im „Kids-Garden“. Der sprießt auf einem Fleckchen Natur mitten in einer Baulücke zwischen klassischen Hinterhöfen. Wer nicht angemeldet ist, wer nicht zu Bullerbü gehört, kann sich die Nasen an den gläsernen Bullaugen plattdrücken, die in die Tore eingelassen sind.
Stadt ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das enge Miteinander verschiedener Milieus, das Funken schlägt. So gesehen ist Neukölln – anders als der Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg – noch ein Stück Stadt. Doch auch in Neukölln stehen die Zeichen auf Verdorfung. Ist Berlin also dabei, zur Provinz zu werden, mit dem Prenzlauer Berg als Blaupause einer posturbanen schwäbischen Kehrwochenglückseligkeit?
Die amerikanische Stadtforscherin Sharon Zukin hat in ihrem Buch Naked City auf den Verlust an Städtischem hingewiesen, der mit der Gentrifizierung einhergegangen sei. Durch die Zerstörung bestehender Strukturen habe „eine Nachbarschaft nach der anderen ihre lokale Identität verloren“.
Das klingt nach Larmoyanz. Doch die neuen Nachbarschaften sind anders als die alten – homogene Milieus, die mit der ursprünglichen Funktion der Städte als Integrationsmaschinen und dem Austausch der Einwohner über die sozialen Grenzen hinweg nur noch wenig gemein haben.
Natürlich war Berlin auch vor dem Mauerfall ein Dorf, in vielem sogar spießiger als heute. Im „Waldekiez“ vergraulten Autonome Restaurantbesitzer, in Neukölln breiteten sich „anatolische Dörfer“ aus, in Charlottenburg war das „alte Westberlin“ zu Hause. Dennoch lebte die Stadt von einer Reibung, die vor allem dort entstand, wo sich die verschiedenen Milieus begegneten.
Inzwischen ist die Neugier einer Kultur des Rückzugs gewichen. Das neue Bürgertum geht in die Kirche, auf den Spielplatz – und ist unter sich. Denn das ist die Kehrseite der viel gepriesenen „Renaissance der Innenstädte“: Mit denen, die nicht länger im Reihenhaus bei Bernau leben möchten, kehrt nicht zwangsläufig Stadt zurück.
Stadt und Dorf gleichzeitig, das ist der neue Anspruch, dem die Quartiere ausgesetzt sind. Und wenn daneben blöderweise ein Club ist oder ein Biergarten wie das Golgatha in Kreuzberg, wird er eben weggeklagt. Andere wiederum, das ist die Alternativversion, steigen in die Fußstapfen der Kleingärtner und finden das plötzlich revolutionär.
„Wir haben Berlin zum Dorf gemacht“: So in etwa könnte die Anklageschrift im Namen der Stadt lauten, die in drei Porträts in dieser Ausgabe zu lesen ist. Doch halt. Wir, das sind nicht nur die anderen, das sind auch wir selbst. Auch wenn wir Blümchen am Lenker albern finden und der Meinung sind, dass Gummistiefel auf den Bauernhof gehören, ist auch unsere Fluchtdistanz geringer geworden. „Seien wir ehrlich“, sagt der Architekturkritiker Wolfgang Kil, „Segregation leben wir doch alle.“
Bullerbü ist überall? Zumindest um Neukölln muss man sich keine Sorgen machen. Anders als am Kollwitzplatz sind rund ums Blömken nicht die Kinder der Einwanderer aus Schwaben, sondern die aus türkischen oder arabischen Familien in der Mehrheit. Bisher heißt das: Wer sich und seinen Kindern den Glauben an Bullerbü erhalten will, zieht weg, wenn diese in die Schule kommen.
Bisher. Doch wer sagt, dass das migrantische Berlin auf kurz oder lang nicht nach Marzahn oder Spandau verdrängt wird. Neukölln ist am Rand, müsste Big Buschkowsky dann sein Nachfolgebuch überschreiben. Und Bullerbü ist mitten in der Stadt.
Das Thema Seite 40, 41
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