: Miesmuscheln und Plissée
MATERIAL II Unter den Händen des Bildhauers Emil Cimiotti entwickelt Papier ein haptisches Eigenleben
Der Bildhauer, 1927 in Göttingen geboren und im Landkreis Wolfenbüttel lebend, ist vor allem regional bekannt: durch seine Brunnen. In Hannover steht seit 1976 der bronzene Blätter-Brunnen nahe des Kröpcke, seit 2001 schmückt eine bronzene Brunnenplastik den Vorplatz des Staatstheaters Braunschweig. Aber Cimiotti nahm auch an der Biennale in Venedig teil – 1958 im italienischen und 1960 im deutschen Pavillon – und war 1959 und 1964 auf der Documenta vertreten. Er gehört somit zu der raren Gattung niedersächsischer Künstler, die auch international wahrgenommen wurden.
Wohlgemerkt: wahrgenommen wurden. Denn mittlerweile ist er fast vergessen. Und obwohl er 1963 als Gründungsprofessor an die Kunsthochschule Braunschweig berufen wurde und dort 1992 Bildhauerei lehrte, hat er kaum bekennende Cimiotti-Schüler hinterlassen.
Und ja, man darf auch etwas hadern mit den abstrahiert vegetabilen oder zoomorphen Formen seiner raumgreifenden Brunnenplastiken, ihrer ästhetischen Gefälligkeit. Diese mag das städtische Grünflächenamt in Braunschweig dazu verleitet haben, Cimiottis plätschernde Plastik noch mit allerlei saisonalen Blumenrabatten zu flankieren: eine wahrhaft florale Gesamtinstallation also an prominenter Stelle im Stadtraum, die das Kunstwerk nicht eben intelligent zu kontextualisieren versteht.
Umso erfreulicher ist es, dass Emil Cimiotti zu seinem 90. Geburtstag jetzt einige Würdigungen erfährt, erst einmal wiederum regional wie derzeit in Hannover und Göttingen. Es ist ein wundervolles, eigenständiges Spätwerk zu entdecken, überraschend filigran, kleinformatig und fast immateriell.
Seit etwa sechs Jahren arbeitet Cimiotti statt mit schwerem Guss mit leichtem Papier, er hat mit enormer Produktivität in den vergangenen gut zwei Jahren rund 300 Reliefs aus verschiedenen Papierarten geschaffen. Er benutzt das Material also nicht im konventionellen Sinne als Bildträger für Zeichnung oder Farbe, sondern unterwirft es elementaren Prinzipien der Plastik: Die zweidimensionale Fläche schafft dreidimensionale Volumen.
Ebenso elementar sind seine Handgriffe: Die Papiere, häufig feste Transparente, werden zu harten, manchmal architektonisch anmutenden Graten aufgefaltet. Oder zu lockeren Stäben gerollt, dann eingedrückt, gestaucht, deformiert, leichtere Papierbögen werden in ganzer Fläche geknüllt und wieder etwas geglättet, Papierstreifen zu in sich gewundenen Möbius-Schlaufen verarbeitet, um nur einige Techniken zu nennen.
Das Material entwickelt ganz nebenbei haptisches Eigenleben, es wird exakt zu- oder eingeschnitten, auch mal gerissen. Farbe tritt hinzu, herbstliche Töne und metallische Schattierungen, teils vor der manuellen Bearbeitung aufgebracht, teils später, und dann in die Reliefs unterschiedlich einsickernd, den transparenten Papieren opaken Oberflächenschimmer verleihend.
Wieder unübersehbar sind Naturanalogien in den Ergebnissen: ein bräunlich schillerndes Schlaufen-Arrangement lässt spontan an die Schalen von Miesmuscheln denken, Stabformationen könnten maritimes Treibgut sein, oder üppig kredenzte Räucheraale? Ebenso sind Assoziationen zu Kulturprodukten präsent.
Man erinnert sich, zumindest wenn man die fotografischen Verkleinerungen einiger Reliefs sieht, etwa aus der Modegeschichte die plissierten, farblich changierenden Seidensatinstoffe des Venezianers Mariano Fortuny.
Wie universal Cimiotti diese bildnerische Tektonik auffasst, zeigt sich an zwei Bronzen aus den 1990er-Jahren, die sich in Hannover zu 15 Papierarbeiten gesellen. Und man erkennt gleich: Auch der Körper der primär-geometrischen Pyramide ist aus Flächen zusammengesetzt. So wie grundsätzlich ja die in ihrem Inneren ganz hohle Gussplastik, anders als die aus dem Stein gehauene massive Skulptur, lediglich Volumen suggeriert. Die Substruktionen aus Rahmen und Stützwerk der Bronzen werden folglich gezeigt, sind Bestandteil der Komposition. Emil Cimiotti gewährt Einblicke ins tiefste Innere. Bettina Maria Brosowsky
„Emil Cimiotti. Zum 90.“: bis 19. 11., Sprengel-Museum, Kurt-Schwitters-Platz, Hannover
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