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Kontrollierte Begeisterung

PORTRÄT „Ich möchte mehr Mannschaftsführer sein als Diktator“: Justin Doyle tritt als neuer Dirigent desRias Kammerchors an – harte Arbeit kündigt er dennoch an. Mit Monteverdi feiert der Brite seine Premiere

Weiß über Frisuren genauso Bescheid wie über geistliche Musik: Justin Doyle Foto: Matthias Heyde

von Tim Caspar Boehme

Sexy. Zu geistlicher Musik fallen einem ja meistens eine Reihe anderer Adjektive ein. Justin Doyle sagt das aber ganz bewusst über die Musik des italienischen Komponisten Claudio Monteverdi, mit dessen geistlichem Hauptwerk „Vespro delle Beata Vergine“ er am Wochenende im Rahmen des Musikfests Berlin sein Antrittskonzert als Chefdirigent des Rias Kammerchors im Pierre Boulez Saal beging: „Sexy.“

Wenn man die Musik hört, vor allem die Concerti über Texte aus dem Hohelied, kann man mühelos nachvollziehen, was Doyle meint. Spröde oder sonstwie sinnenabgewandt ist diese funkensprühende Musik nun so gar nicht. Im Pierre Boulez Saal künden schon die ersten Bläserfanfaren der Capella de la Torre, über denen der Rias Kammerchor den strahlenden Eingangschor singt, eine hochgradig expressive Form des Gotteslobs an, das keine Berührungsängste mit Elementen aus Oper oder Ballettmusik kennt. Wenn man so feurig besungen wird, möchte man gern Muttergottes sein.

Der 1975 geborene Engländer spricht mit britisch kontrollierter Begeisterung über dieses Werk, das Monteverdi 1610 in einem Buch, einer Art Sammelmappe seiner geistlichen Kompositionen, herausbrachte. Ein „party piece“ sei das für alle Beteiligten. Der Anlass passt: Das Musikfest Berlin beging in diesem Jahr den 450. Geburtstag Monteverdis, für die Feier kam die Marienvesper, so der deutsche Titel, da wie gerufen.

Zur Abrundung des Monteverdi-Bilds sang der Rias Kammerchor in der anderen Hälfte des Antrittskonzerts, in der St. Hedwigs-Kathedrale, die „Missa in ille tempore“, die aus demselben Band stammt wie die Marienvesper. Hier dominiert das komplexe Miteinander der weitgehend unabhängigen Chorstimmen. „Mit diesem Buch wollte er der Welt beweisen, dass er sakrale Musik schreiben kann“, so Doyle. „Und in diesen Konzerten mit der Missa und der Vesper haben wir beide Seiten Monteverdis: die akademische und ernste, mit der er seinen Kritikern beweist, dass er echt polyphon im Stile antico schreiben kann, und zugleich befähigt er sich dazu, in diesem dramatischen Stil zu schreiben.“

Doyle wirkt im Gespräch freundlich-entschlossen, wie jemand, der ziemlich genau weiß, was er will. Wobei er für seine Zusammenarbeit mit dem Rias Kammerchor keine großen Veränderungen ankündigt, sondern eher bescheiden auftritt. „Ich möchte einige stilistische Dinge erarbeiten, aber ich werde nichts ändern. Etwas Neues plane ich nicht. Ich denke nicht, dass sie das brauchen. Die Sänger benötigen keinen Chef. Ich möchte mehr Mannschaftsführer sein als Diktator.“ Allenfalls werde er ein wenig neues Repertoire einführen.

„Orchesterdirigenten haben bessereFrisuren als Chor­dirigenten“

Justin Doyle

Anders als sein Vorgänger Rademann, der vornehmlich als Chordirigent arbeitet, hat ­Doyle in gleichem Maße Erfahrungen als Orchester- und Operndirigent. Wobei Doyle zwischen diesen verschiedenen Einsatzgebieten keine wesentlichen Unterschiede sieht: „Ich bin nur Dirigent. Ich bin nie Chor-, Opern- oder Orchesterdirigent. Ich glaube, ich bin nur Musiker, und man ist am besten als Musiker, wenn man verschiedene Erfahrungen hat.“ So möchte er zum Beispiel ein wenig vom Drama der Oper in die Chorarbeit einbringen.

Doyle ist sich dessen bewusst, dass Chöre im Vergleich zu Orchestern ein Popularitätsdefizit haben. Im Fall des Rias Kammerchors hat er zwar den Vorteil, ein Spitzenensemble zu leiten, das zu den besten der Welt zählt, doch er ist sich der Schwierigkeiten bewusst. Und hat, ganz britisch nüchtern, eine plausible Erklärung für den strukturellen Nachteil von Chören gegenüber Instrumental­ensembles: „Orchester sind größer und lauter. Und die Dirigenten haben bessere Frisuren.“ Seine ernsthafte Antwort folgt unmittelbar im Anschluss an den Witz: „Orchester haben große Sinfonien, große Werke von 20 Minuten bis zwei Stunden Dauer. So etwas haben wir nicht. Wir müssen unsere Stimmen vorsichtig einsetzen. Ein Chorwerk, das anderthalb Stunden durchläuft wie eine Mahler-Sinfonie, ist daher technisch nicht möglich.“ Statt mit großen Stücken als Publikumsmagnet müsse man in der Programmgestaltung eben mit Themen arbeiten. Andererseits zeigt er sich optimistisch: „Menschen, die Orchestermusik mögen, meinen oft, dass sie keine Chormusik mögen. Es ist eine Art Vorurteil. Wenn sie dann tatsächlich Chorstücke hören, sagen sie immer: ‚Das war ja toll!‘“

Beim Rias Kammerchor nun freut sich Doyle besonders auf die „Beziehung“, die er durch die tägliche Arbeit mit den 35 Sängerinnen und Sängern eingehen wird. „Normalerweise ist man als Musiker immerzu Gast, Gast, Gast. Wir aber können nach und nach etwas aufbauen.“ Er werde dabei ziemlich hart mit ihnen arbeiten, versichert er. „Und bisher scheint ihnen das zu gefallen.“

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