Neuer Regierungschef im Kosovo: Der Premier im Dauerspagat
Der Ex-UCK-Führer Haradinaj wird Premierminister – mit serbischen Stimmen. Serbiens Regierung hält derweil am Haftbefehl gegen in fest.
Doch die Stimmen aus dem Lager der ehemaligen Freiheitskämpfer von 1998/99 reichten für eine Mehrheit nicht aus. Haradinaj brauchte dazu noch die Stimmen von Kleinparteien und die Stimmen der Minderheiten im Lande. Für viele überraschend entschlossen sich die 10 Abgeordneten der serbischen Minderheit im Kosovo, den von serbischer Seite bisher als „Kriegsverbrecher“ titulierten Ramush Haradinaj mit zum Regierungschef zu wählen.
Das überrascht um so mehr, als auch noch in den letzten Tagen Serbiens Regierung in Belgrad betont hatte, an dem internationalen Haftbefehl gegen Haradinaj festzuhalten. Sein Land halte die Vorwürfe weiter aufrecht und lasse nach ihm fahnden, sagte der serbische Präsident Aleksandar Vučić.
Anfang des Jahres hatte Serbien – ähnlich wie die Türkei vor wenigen Wochen gegenüber dem türkisch-deutschen Schriftsteller Doğan Akhanlı – Interpol gegen Haradinaj instrumentalisiert. Der Kosovare wurde in Frankreich festgenommen und musste vier Monate dort verbringen, weil Serbien seine Auslieferung verlangt hatte. Ein französisches Gericht schlug das nieder, unter anderem unter Verweis auf seinen vorherigen Freispruch durch das UN-Jugoslawien-Tribunal, und ließ ihn nach Kosovo zurückkehren. Und schließlich gewann Haradinaj vor wenigen Tagen den reichsten Mann Kosovos, den vor allem in der Schweiz und in Russland tätigen Baulöwen Behgjet Pacolli, als Unterstützer. Dessen liberale Kleinstpartei Allianz Neues Kosovo wurde durch drei Ministersessel angelockt.
Die Regierung Haradinaj ist somit die erste Regierung Kosovos, die vom Wohlwollen der serbischen Minderheit und damit von Serbien, besser gesagt, von dessen starkem Mann und Präsidenten Vučić, abhängig ist. Und auch von einem zweifelhaften Geschäftsmann, der vor allem eigenen Interessen folgt.
Die Aufgaben, die diese wacklige Regierung lösen muss, sind jedoch gewaltig. Nicht nur, dass die wirtschaftliche Entwicklung Kosovos weiter hinter allen Versprechen der Parteien hinterherhinkt. Das Land hat mit der jüngsten Bevölkerung Europas eine Arbeitslosenrate von bis zu 70 Prozent. Haradinaj hat als Oppositionsführer 2016 zudem einen Konflikt mit dem Nachbarstaat Montenegro über den Grenzverlauf vom Zaun gebrochen, den er jetzt unbedingt lösen muss. Denn die Aufhebung des Visaregimes – die Bevölkerung Kosovos benötigt für Reisen ins Ausland weiterhin Visa, anders als seine Nachbarn – ist von Seiten der EU an die Bedingung geknüpft, den Konflikt mit Montenegro zu lösen.
Die schwierigste Aufgabe ist jedoch, einen Modus vivendi mit der serbischen Minderheit und mit Serbien zu finden, ohne sich in Abhängigkeit zu begeben. Die von der EU und Serbien geforderte Anerkennung der „Assoziation der serbischen Gemeinden“ Kosovos stellt in den Augen der stärksten Oppositionspartei Selbstbestimmung unter Albin Kurti die Gründung einer serbischen Teilrepublik in Kosovo dar, nach dem Muster der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene