piwik no script img

Raue Stimme der Vernunft

POP Auf ihrem Debütalbum „Off the Radar“ verhandelt Noga Erez aus Tel Aviv die politischen Konflikte vor ihrer Haustür und in aller Welt. Bei den Olympischen Spielen ist sie bereits für ihr Heimatland aufgetreten

Die Sängerin mit der rauen Stimme: Nora Erez Foto: Tonje Thilesen

von Jens Uthoff

Wut. Enttäuschung. Verstörtheit. Chaos. Konflikt. Spannungen. All dies sind Worte, die während eines Interviews mit Noga Erez vermehrt fallen. Das emotionale Setting, in dem sich die Songs der 27-jährigen Musikerin abspielen, treffen diese Begriffe punktgenau. Und auch ihre natürliche Umgebung beschreiben sie präzise, denn die Elektropop-Künstlerin kommt aus Israel, und während sie in ihrer Wohnung am Rande Tel Avivs vor dem Skype-Bildschirm sitzt und Fragen zu ihren Songs beantwortet, spitzt sich der israelisch-palästinensische Konflikt am Tempelberg aufs Neue zu.

„Off the Radar“ heißt das Debütalbum, das Noga Erez kürzlich veröffentlicht hat, und darauf verarbeitet sie auch jenen schwelenden Konflikt, von dem sie glaubt, dass er zu ihren Lebzeiten nicht mehr gelöst werde. Über den Alltag in Israel sagt sie: „Es liegt ständig eine gewisse Nervosität in der Luft. Du kannst sie nicht ignorieren. Es gehört zum Leben dazu, dass du nicht im Mindesten vorhersehen kannst, was passieren wird.“

Erez’Erstling ist nicht nur eines der politischsten, sondern auch eines der besten elektronisches Alben des bisherigen Popjahres. Es fordert den Hörer ständig – und es überrollt einen musikalisch, in positivem Sinne. Die 15 Stücke, die sich zwischen Trap/HipHop und sogenanntem Future-R’n’B bewegen, klingen knackig und frisch, sie wummern und klackern; kein Wunder, dass „Depth“, also Tiefe, ein weiteres Wort ist, das Erez öfter mal fallen lässt. Der Sound erinnert manchmal an zeitgenössiche US-Mainstream-Acts, allerdings ohne deren partielle Austauschbarkeit.

Die Titelzeile „I’m off the radar“ könnte dabei auch als glatte Lüge durchgehen. Denn Noga Erez erscheint gerade erst auf der Bildfläche, die Coverabbildung – eine Close-up-Aufnahme von ihr, mit geradem Pony und entschlossenem, ernstem Blick – zeugt davon. Ihr gehe es in dem Song allerdings auch eher um die heutige Social-Media-Welt, die wie ein ständiger und unumgänglicher Präsentierteller sei. Von der Bildfläche verschwinden? Unmöglich.

Erez, die 1990 in Tel Aviv geboren wurde, hat im Jugendalter so ziemlich alle Instrumente ausprobiert, die man sich vorstellen kann. Gesungen hat sie von klein auf; beim Wehrdienst, mit 18, war sie Militärmusikerin. In den vergangenen Jahren hat sie mit dem Soundprogramm Ableton – und mit ihrem Produzenten und Partner Ouri Rosso – an ihrem Debüt gebastelt, das sie nun als Crossover zwischen natürlich erzeugten Klängen und Elektronik beschreibt: „Wir haben sehr viele Klänge gesampelt. Und wenn du etwas aufnimmst, wie ein Klackern mit dem Glas“ – Erez macht Gesten vor dem Bildschirm –, „und es durch die Software jagst, ist es dann elektronisch oder akustisch?“ Zu den Sounds, die sie live mit zwei Synthesizern erzeugt, singt sie meist betont kühl und rough. In ihren Videos sieht man sie auf den Dächern und in Industrieruinen Tel Avivs tanzen – von der Performance her zeigt sie sich von den Beyoncés und Rihannas dieser Welt beeinflusst.

Eine Freundin weicher Themen ist sie nicht. Erez besingt etwa einen in Israel durch die Medien gegangenen Fall von massenhaftem sexuellen Missbrauch („Pity“). In dem großartigen „Dance While You Shoot“ setzt sie sich – lautmalerisch durch Trap-/HipHop-Beats unterstützt – damit auseinander, dass wir uns im Angesicht der Krisen zwar ständig fragten, wie wir uns damit fühlen, uns aber kaum mit den Situationen selbst beschäftigten.

Erez’Erstling ist nicht nur eines der politischsten, sondern auch eines der besten elektronisches Alben des bisherigen Popjahres

In Israel ist Erez keine Unbekannte, bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro trat sie für ihr Heimatland auf. Wobei sie selbst zu den Kritikern der Regierung Netanjahu gehört und es sie im Gespräch nun etwas belustigt, dass das Außenministerium gerade sie ausgewählt hat. „Benjamin Netanjahu bringt uns nicht weiter“, sagt sie, „im Gegenteil, dem Likud geht es um Machterhalt und darüber hinaus um gar nichts.“ Sie selbst habe in Rio zeigen wollen, dass ein großer Teil der Bevölkerung jede Anstrengung auf sich nehmen würde, um Frieden in der Region zu erreichen. Sie sei auch deshalb in diesem Rahmen aufgetreten, um Missverständnisse aufzuklären: „Es gibt viele Menschen, die glauben, Israel werde von einem Diktator geführt, das ist natürlich nicht wahr. Israel ist ein sehr modernes Land mit einer liberal-fortschrittlichen Demokratie. Andererseits geschehen natürlich auch innerhalb einer Demokratie undemokratische Vorgänge.“

Umso mehr erschüttere es sie, wenn Initiativen wie BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) sich zum Beispiel gegen ein Theater richte, mit dem sie befreundet sei, „aus dem einzigen Grund, dass es aus Israel kommt“. Im Gegenteil solle man alles für eine Annäherung beider Seiten tun, „die ganze israelische Gesellschaft zu bestrafen, trifft es nicht und führt zu nichts.“ Auch eine ihrer Lieblingsbands, Radiohead, ist kürzlich von BDS bedrängt worden, einen Gig in Israel zu canceln. Absurd und traurig, so Erez, den Leuten Kultur- und Pop-Acts vorenthalten zu wollen.

Dass ihre klugen Texte in einen Sound eingebettet sind, der sie in die erste Clubsound-Liga bringt, sollte dabei keinesfalls vernachlässigt werden. Denn zu Wut und Konfusion und Angst und Zweifel kann man tanzen. Sehr gut sogar.

Noga Erez: „Off the ­Radar“ (City Slang)

Live: 12. 8., ­Acudmachtneu, Berlin; 16. 8.,c/o Pop, Köln

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen