piwik no script img

Die Flucht führt über den Feldweg

Kanada An der Grenze zu den USA in der Provinz Québec kommen Tausende Flüchtlinge aus Haiti an

Armeezelte für die Flüchtlinge in der Stadt Lacolle Foto: Graham Hughes/ap

AUS VANCOUVER Jörg Michel

Die Landstraße Chemin Roxham im Süden der kanadischen Provinz Québec ist eigentlich ein ruhiger und unspektakulärer Ort. Die schmale Route führt an einsamen Wäldchen entlang, vorbei an Äckern, Bauernhöfen und Gestüten. Ab und zu zweigen holprige Feldwege ab, an einem kleinen See gibt es ein paar Stellplätze für Angler und ­Camper. Es ist eine ländliche Idylle.

Doch seit ein paar Monaten ist am Chemin Roxham alles anders. Über die Straße patrouillieren Polizeiwagen, Shuttlebusse wirbeln Staub auf, Kamerateams aus aller Welt fallen über den Ort her. Jetzt hat auch noch die kanadische Armee ein Zeltlager aufgebaut. Das hat mit Menschen wie Jean Liberal zu tun.

Der Enddreißiger stammt aus Haiti, hat seit dem großen Erdbeben 2010 aber in Florida gelebt. Doch da fühlt er sich nicht mehr sicher, seit Donald Trump in den USA Deportationen angedroht hat. Also ist er mit dem Taxi hierher gekommen, um sein Glück in Kanada zu suchen. Liberal ist einer von 150 bis 300 Flüchtlingen am Tag, die illegal die Grenze zwischen den USA und Kanada überqueren, die am Ende des Chemin Roxham verläuft. In der gesamten Provinz Québec waren es seit Januar rund 3.300 Menschen, in ganz Kanada 4.300, so viele wie seit Jahren nicht mehr. Besonders markant ist der Anstieg in den letzten Wochen. Die meisten Flüchtlinge stammen wie Liberal aus Haiti. Die kanadischen Behörden sprechen von 75 Prozent. Viele der Haitianer haben in den USA nur noch bis Ende Januar 2018 einen sicheren Aufenthaltsstatus und befürchten, danach in ihre alte Heimat abgeschoben zu werden.

Also setzen sie alles auf eine Karte. „Stopp. Einreise verboten“ steht auf einem Schild an der Straße, die hier in einer Sackgasse endet. Doch das hält Männer wie Liberal nicht auf. Wenn sie es an einem offiziellen Übergang versuchen würden, müssten sie gleich in die USA zurück, so haben es Kanadier und Amerikaner in einem Asylabkommen vereinbart. Am informellen Übergang am Chemin Roxham dagegen dürfen die Flüchtlinge erst mal bleiben. Polizeibeamte empfangen sie in einem provisorischen Zelt, wo sie offiziell wegen illegalem Grenzübertritt festgenommen werden. Nachdem man ihre Personalien aufgenommen hat, werden sie aber wieder freigelassen und dürfen in Kanada sogleich offiziell Asyl beantragen.

Eine Entscheidung über ihr Asylbegehren ergeht innerhalb von sechs Monaten

Manche Flüchtlinge kommen danach erst mal in einem beheizten Zeltlager unter, das die Armee errichtet hat. Andere werden mit Bussen nach Montréal gebracht, das rund eine Autostunde weiter nördlich liegt. Meist werden sie in einem von zwölf Lagern versorgt, unter anderem auch im Olympiastadion. Dort harren die Flüchtlinge aus, bis sie von Familienmitgliedern oder karitativen Organisationen aufgenommen werden.

Laut kanadischem Recht haben die Asylbewerber innerhalb von zwei Monaten einen Anspruch auf eine erste Anhörung. Eine Entscheidung, ob ihr Asylbegehren angenommen wird, ergeht normalerweise innerhalb von rund sechs Monaten. Ihre Chancen sind ungewiss. Zwar genießt Kanada bei vielen Flüchtlingen einen guten Ruf und die Kunde vom informellen Grenzübergang in Québec hat sich über die sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreitet. Am Ende aber waren zuletzt nur rund die Hälfte der Haitianer auch erfolgreich. Die anderen wurden abgeschoben.

Denn nach kanadischem Recht müssen die Bewerber stichhaltige Fluchtgründe wie Verfolgung oder Folter nachweisen können. Die illegalen Grenzgänger müssten sich wie alle anderen Asylbewerber an Recht und Gesetz halten und das reguläre Anerkennungsverfahren durchlaufen, erklärte der als liberale geltende Premierminister Justin Trudeau in einem Interview. Ein herzlicher Willkommensgruß klingt anders.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen