: „Das Land verändert sich“
Gregor Gysi meint, dass mit dem Erfolg der Linkspartei der neoliberale Zeitgeist eine Niederlage erlitten hat
INTERVIEW ROBIN ALEXANDER UND JENS KÖNIG
taz: Herr Gysi, die Linkspartei zieht in den Bundestag ein. Ein uneingeschränkter Erfolg?
Gregor Gysi: Wir sind die eigentlichen Gewinner dieser Bundestagswahl. Wir haben über vier Prozent Stimmen mehr als bei der letzten Wahl. Wir liegen vor den Grünen. Die FDP hat nur zugelegt, weil die CDU auch noch verloren hat. Aber wirklich wichtig ist etwas anderes: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich verändert. Zum ersten Mal seit Anfang der Fünfzigerjahre gibt es in den alten Bundesländern das Bedürfnis nach einer nennenswerten Kraft links von der Sozialdemokratie. Noch vor einem Jahr hätte ich eine solche Entwicklung nicht für möglich gehalten. Jetzt ist sie da.
Sie wirken begeistert.
Aber ja! Wir sind jahrelang immer zwischen 4,0 und 5,1 Prozent herumgekrepelt. Und jetzt werden wir mit 8,7 Prozent gewählt! Wegen des Zusammengehens mit einer westdeutschen Kraft. Wegen Oskar Lafontaine. Das ist doch ein wirklich spannender Vorgang! Wie können Sie da überhaupt so gleichgültig herumsitzen?
Wie hoch ist der Anteil der Person Oskar Lafontaine am Erfolg der Linkspartei?
Bestimmte Zeitungen sind nicht politisch, sondern nur noch persönlich gegen Lafontaine vorgegangen. Artikel 1 des Grundgesetzes, der sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar, wurde für Oskar Lafontaine ausgesetzt. Viele Leute – besonders im Osten – reagieren auf so etwas allergisch. Die haben gesagt: Dann erst recht.
Sie behaupten, der Erfolg der Linkspartei stünde für einen neuen Zeitgeist jenseits des Neoliberalismus. Nun hat aber gerade die FDP stark zugelegt.
Dass es eine neoliberale Strömung in Deutschland gibt, weiß ich. Deshalb sitzt die FDP im Bundestag. Wobei ich zehn Prozent ein bisschen viel finde. Aber der Neoliberalismus hat sich doch in den großen Parteien und ebenso bei den Grünen festgesetzt. Und darüber hinaus: Im Fernsehen und in den anderen Medien dominiert der Neoliberalismus auch. Aber es beginnen Gegenäußerungen, etwa in der taz und in der Zeit. Und mit uns gibt es wieder eine Kraft, die im Bundestag gegen diesen Zeitgeist steht. Und ich bin sicher: Jetzt bekommen wir wieder Debatten, in denen es nicht nur um Sozialabbau geht.
Wie wird die Republik künftig regiert werden?
Wir erleben etwas Einmaliges: Die Regierung von SPD und Grünen ist abgewählt worden. Und eine andere Regierung von Union und FDP ist nicht gewählt worden. Wann hat es denn so eine Situation schon einmal gegeben?
Ist das ein Ausdruck von Instabilität?
Das ist ein Ausdruck von europäischer Normalität.
Nach dieser Logik müssten Sie der SPD schnell ein Koalitionsangebot machen.
Nein, das wäre falsch. Denn es geht um Inhalte. Die SPD ist zur Bestätigung der Agenda 2010 und von Hartz IV angetreten. Schröder hat aus der SPD eine zweite Union gemacht, auch wenn er sich jetzt im Wahlkampf so sozial gebärdet hat wie seit sieben Jahren nicht. Eine Zusammenarbeit mit uns setzt voraus, dass sich die SPD wirklich verändert. Das wird nicht über Nacht geschehen. Aber unser Einzug in den Bundestag wird dort einen Diskussionsprozess auslösen. Es wird in der Sozialdemokratie zu einem Personal- und Politikwechsel kommen. Danach könnten wir auch über eine Zusammenarbeit reden.
Oskar Lafontaine spricht jetzt schon von einer „Mehrheit links der Mitte“ im Sinne Willy Brandts.
Wir haben in jedem Fall eine Mehrheit links von Union und FDP. Aber ob das tatsächlich eine linke Mehrheit ist? Da bin ich noch vorsichtig.
Was wäre der Linkspartei lieber: Eine große Koalition oder eine Ampel oder eine Koalition aus CDU, FDP, Grünen?
Wenn die SPD beteiligt ist, wird der Sozialabbau nicht so dramatisch, wie wenn nur CDU und FDP regieren.
Mit der Linkspartei hat eine Partei eine Wahl gewonnen, die es eigentlich noch gar nicht gibt. Wie schnell muss jetzt die Vereinigung von PDS und WASG vollzogen werden?
Die Bürger erwarten, dass wir das schnell machen. Niemand würde verstehen, wenn wir noch einmal getrennt antreten würden. Noch wichtiger als Schnelligkeit sind mir allerdings Inhalte und Fairness. Wir haben gute Chancen, die Vereinigung fair zu machen: Die Linkspartei hat zwar mehr Mitglieder. Aber die WASG wird zehn Landesverbände dominieren und wir nur sechs. Vielleicht sind wir vor der Berlin-Wahl im kommenden Herbst vereinigt.
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