Leuchten der Menschheitvon Barbara Bollwahn: Der minder-jährige Staatsfeind
Die willkürlichen Verhaftungen in der Türkei lassen den deutschen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble an die DDR denken. „Die Türkei verhaftet inzwischen willkürlich. Das erinnert mich daran, wie es früher in der DDR war“, sagte er.
Auch wenn es keiner weiteren Beweise für Willkür in der DDR bedarf, zeigt das im Knaus Verlag erschienene Buch „Briefe ohne Unterschrift“ (2017) sehr eindringlich, wie dort mit Kritikern umgegangen wurde. „Briefe ohne Unterschrift“ war der Name einer BBC-Sendung, die von 1949 bis 1974 Freitagabend lief und in der anonyme Briefe von Schülern, Studenten, Akademikern, Rentnern, Bauern und Arbeitern verlesen wurden, die über „stille Briefkästen“ in Westberlin nach London gelangten.
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Susanne Schädlich, 1965 in Jena geboren, stieß zufällig bei der Recherche zu einem Buch über ihren Onkel, der als IM für die Stasi gearbeitet hat, auf die verschollen geglaubten Briefe und rekonstruierte aus den Zuschriften, Protokollen von Stasispitzeln und Gesprächen mit ehemaligen BBC-Mitarbeitern und Briefeschreibern eine hochspannende dokumentarische Erzählung.
Einer der Briefeschreiber war Karl-Heinz Borchardt, der Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre drei Briefe an die BBC verfasste. „Ich bin noch Schüler und habe daher vielleicht nicht so den Durchblick“, schrieb er, „aber mich würde es doch interessieren, wie es kommt, dass dieser Staat sich so lange halten kann“. Zudem klagte er über die „ideologische Drillanstalt“ und dass es kein Vergnügen sei, „ständig was anderes zu sagen, als man denkt“.
Borchardt wurde wegen „mehrfacher versuchter staatsfeindlicher Hetze von Publikationsorganen, die einen Kampf gegen die DDR führen“, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die DDR wollte den minderjährigen Staatsfeind in den Westen abschieben, doch Borchardt wehrte sich und blieb. Erst nach dem Ende der DDR eröffneten sich ihm berufliche Perspektiven. 1974 stellt die BBC die Sendung ein. Die DDR war mittlerweile auch von Großbritannien als eigenständiger Staat anerkannt worden. Doch auch über 40 Jahre später offenbaren sich anschaulich und erschreckend die Absurdität und Paranoia in der DDR.
Die Autorin ist freie Publizistin in Berlin
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