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Keine Ruh’ über allen Blättern

Goethes berühmtes „Nachtlied“, ein Gegengedicht von Kleist und ein Streit darüber, wer zuerst herausgefunden hat, wann und wo Kleist das Goethe-Gedicht erstmals las

Anfang September vor 225 Jahren soll Goethe auf die Bretter einer Jagdhütte mit Bleistift das wohl berühmteste Gedicht deutscher Sprache notiert haben. „Über allen Gipfeln / Ist Ruh’, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur! Balde / Ruhest du auch.“

Ob das wirklich so war, weiß niemand. Die Hütte brannte 1870 nieder, die Verse allerdings sind immer noch in Holz gemeißelt und locken Heerscharen von Pilgern in den Thüringer Wald. Als Goethe sein als „Wanderers Nachtlied“ bekanntes Gedicht geschrieben haben soll, 1780, war er 31, während Kleist gerade den Windeln entwuchs. Offiziell publiziert wurde Goethes Gedicht, das er selbst „Ein gleiches“ nannte, erst 1815 in der Goethe-Werkausgabe, zu einem Zeitpunkt, da Kleist im Kleinen Wannsee bereits den Freitod gesucht hatte.

Seit einigen Jahren nun diskutieren Germanisten, wie Heinrich von Kleist dennoch an die Verse des Gedichts gekommen war und auf einem Zettel kleine, aber entscheidende Veränderungen notieren konnte. Bei Kleist ist nicht „Über allen Gipfeln“ Ruh’, sondern „Unter allen Zweigen“. Die Vögelein „schweigen“ nicht, sie „schlafen“. Und aus dem „Balde / Ruhest du auch“ wird „balde / Schläfest du auch“. Der Zettel mit dem Kleist-Notat tauchte 2001 bei einer Auktion auf und sorgt im Moment für Zwist.

Der Grund: Die Herausgeber der Kritischen Kleist-Ausgabe im Stroemfeld Verlag haben die Kleist-Variante des Goethe-Gedichts in den Gedichtband ihrer Ausgabe aufgenommen, benennen in einem Aufsatz die mögliche Quelle Kleists und interpretieren dessen Veränderungen. Allein dass die Herausgeber der Kritischen Kleist-Ausgabe, Roland Reuß und Peter Staengle, die Verse als eigenständiges Gedicht behandeln, ist eine weit reichende Interpretation. Hinzu kommt die These, Kleist habe nicht nur nebenbei Gehörtes notiert, sondern bewusst auf Goethe reagiert und sich unter anderem mit der Todesmetapher „Schlaf“ für die Kränkung gerächt, die Goethe ihm 1808 durch die verhunzende Uraufführung des „Zerbrochnen Krugs“ zugefügt hatte. Dass Kleist nicht gut auf Goethe zu sprechen war, ist bekannt. Die Animositäten der beiden werden Literaturhistoriker noch lange beschäftigen.

Darum geht es im Kern allerdings nicht, wenn die Herausgeber der Kritischen Kleist-Ausgabe nun plötzlich mit der FAZ hadern und das auf der Homepage ihres „Instituts für Textkritik“ zum Ausdruck bringen. Der Grund: Am 19. August schickte der Stroemfeld Verlag den Gedichtband und den gesondert erscheinenden Reuß-Aufsatz vorab an das Literaturressort der FAZ – also fünf Tage vor Auslieferung und zwei Wochen bevor im FAZ-Feuilleton am 5. September überraschenderweise ein Artikel Wulf Segebrechts erschien, in dem der Bamberger Germanistikprofessor auf das Jubiläum des Goethe-Gedichts eingeht, sich aber viel intensiver jener Frage widmet, die auch die Kleist-Herausgeber umgetrieben hat: Was war die Vorlage des Kleist-Notats?

Nur war diese Frage vom Kleist-Herausgeber Reuß zu diesem Zeitpunkt schon beantwortet. Kleist, so Reuß, habe das Gedicht erstmals im Jahr 1800 in der von August Henning herausgegebenen Zeitschrift Genius der Zeit lesen können. Damit benennt Reuß den Erstdruck des Goethe-Gedichts. Das Studium der Quelle ist auch der Grund für die These, Kleist habe bewusst ein Gegengedicht verfasst.

Interessant ist, warum Wulf Segebrecht zum gleichen Ergebnis kommt. Er schreibt: „Bei der Suche nach dem ersten Druck des Goetheschen Nachtliedes und der möglichen Quelle von Kleists Niederschrift hat man bisher die ‚Bemerkungen über Weimar‘, die im Jahr 1800 in vier Folgen in der Altonaer Zeitschrift Genius der Zeit anonym erschienen, völlig übersehen (…) Kein Goethe-Bibliograph hat das bisher verzeichnet und kein Kleist-Kenner hat darauf bei der Würdigung des sensationellen Autographs von Kleist hingewiesen.“

Dass genau dies nicht stimmt, hätte Segebrecht zu diesem Zeitpunkt wissen können, da die FAZ den Beleg dafür schon vorliegen hatte. Bleibt die Frage, warum Segebrecht auf die Publikation nicht eingeht. Hatte er Kenntnis vom Reuß-Aufsatz und unterschlug ihn? Oder kannte er den Aufsatz tatsächlich nicht und kam parallel zum selben Befund? Im ersten Fall hätte Segebrecht als Wissenschaftler nicht unbedingt korrekt gehandelt. Im zweiten muss man sich fragen, warum die FAZ ihren Autor nicht davon unterrichtet hat, dass zur gleichen Zeit eine Veröffentlichung zum selben Thema herausgekommen war.

Spricht man mit Wulf Segebrecht, ist die Antwort eindeutig. „Es war mir nicht bekannt, dass die Kleist-Kenner das inzwischen auch ermittelt hatten“, sagt er und meint auf die Nachfrage, ob es nicht förderlich gewesen wäre, sich kundig zu machen: „Nein, kann man nicht sagen. Was vierzehn Tage vor der eigenen Publikation erschienen ist, muss man nicht unbedingt zur Kenntnis genommen haben.“ JÜRGEN BERGER

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