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Südstaaten Ein vermeintlich uralter Bluessong, im Netz platziert. Ein erfundener Musiker, der doch existiert: Hari Kunzrus „White Tears“ erzählt von einer Reise ins Herz der FinsternisDie Geister vom Mississippi

Für seinen ersten Roman „The Impressionist“ bekam er in England einen Millionenvorschuss, wichtige Literaturpreise folgten: Hari Kunzru Foto: David Levenson/getty images

von Klaus Bittermann

Der Nerd steht als Charaktertyp auf der Sympathieskala ziemlich weit unten. Man assoziiert mit ihm Fast-Food-Essensreste, strengen Geruch, beklemmende Atmosphäre. Der Schein des Bildschirms wirft ein schwaches Flackern auf das erschlaffte Gesicht eines Menschen, dem man ansieht, das er sich von allen sozialen Kontakten verabschiedet hat. Ein bisschen so ein Typ ist auch Seth, der Protagonist in Hari Kunzrus Roman „White Tears“, weshalb zunächst die Skepsis überwiegt. Wenn sich Nerds im digitalen Nirvana verlieren, mag man ihnen nicht unbedingt dabei zusehen.

Aber dem 1969 in London geborenen und heute in New York lebenden Kunzru ist ein mächtiger Roman gelungen, der den Leser unwiderstehlich in seinen Bann zieht, weil Kunzru mit großer suggestiver Kraft erzählt und eine unheimliche Spannung aufbaut, die er am Ende fast bis zur Unerträglichkeit anschwellen lässt.

Sein Protagonist Seth kommt aus ärmlichen Verhältnissen, ist schüchtern, in sich zurückgezogen, hat wenig Kontakte und macht deshalb sein eigenes Ding. Er streift mit zwei kleinen Mikros im Ohr, die wie Kopfhörer aussehen, durch New York und sammelt Töne. Unbemerkt nimmt er die Sounds von Gewittern, Autos, U-Bahnen auf. „Ich wollte die Welt festhalten und dann so abspielen, wie ich sie vorgefunden hatte, ohne etwas zu verändern und zu ergänzen.“ Schon an dieser Idee erkennt man eine gewisse Hybris, bei der das Scheitern programmiert ist.

Auf einem seiner Streifzüge nimmt er im Washington Square Park zufällig die Stimme eines Mannes auf, der einen Blues singt: „Believe I buy me a grave­yard of my own.“ Seth spielt die Aufnahme seinem Freund Carter vor, der ihn aus seinem „Kakerlakenloch“ herausgeholt hat. Carter ist reich und weltgewandt, womit bereits das ambivalente Verhältnis zwischen beiden angedeutet ist. So wie Kunzru diese beiden Figuren zeichnet, weiß man nie genau, ob es wirklich Freundschaft ist oder bloß ein Abhängigkeitsverhältnis. Seine Abhängigkeit lassen ihn Carters Geschwister mit der Herablassung reicher Leute jedenfalls gern spüren.

Suggestive Kraft Kunzru ist ein ­mächtiger Roman gelungen, der den Leser unwiderstehlich in seinen Bann zieht, weil ­der Autor eine ­unheimliche ­Spannung aufbaut, die er am Ende fast bis zur ­Unerträglichkeit anschwellen lässt

Alle wollen mit Carter befreundet sein, aber es ist die nerdige Seite des technikbesessenen Seth, der mit einem Richtmikrofon Gespräche in größerer Entfernung belauscht, die Carter anzieht. Auch Carter hat eine dunkle Seite, die Seth zunächst gar nicht auffällt. Er entwickelt sich immer mehr zum Sammler von alten Bluesaufnahmen auf Schellack. Die beiden Musikfreaks bauen ein Tonstudio auf, finanziert von Carters reichem Bruder, um dort die Aufnahmen angesagter Musiker zu produzieren. Aber da hat sich Carter bereits in seinem Sammelwahn verloren.

Unter der Veranda

Carter reinigt den Song, den Seth aufgenommen hat, von störenden Umgebungsgeräuschen und bittet Seth darum, den Song unter Beigabe von Rauschen und Kratzen so zu bearbeiten, bis er klingt wie eine Schellackplatte, „die fünfzig Jahre unter der Veranda gelegen hat“. Den angeblich auf einer alten Schallplatte entdeckten Blues­song stellt Carter sodann ins Netz und erfindet einen Interpreten dazu: Charlie Shawn.

Für Sammler ist das eine Sensation. Was als Scherz beginnt, gewinnt ein Eigenleben, denn wie es aussieht, hat ein Charlie Shawn tatsächlich existiert. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als Carter in einer anrüchigen Gegend niedergeschlagen wird und aus dem Koma nicht mehr erwacht. Seth steht plötzlich auf der Straße, weil Carters Bruder Tonstudio und Wohnung der beiden räumen lässt.

Von einem alten Sammler, der vor langer Zeit im Mississippi-Gebiet umherreiste, um alten Leuten Schellackplatten für ein paar Cent abzukaufen, weiß Seth, dass die Sache mit Carter mit Charlie Shawn zu tun haben muss, und er unternimmt mit Carters Schwester Leonie eine Reise in den Süden. Leonie aber wird in einem Motel brutal ermordet, Seth in einen Albtraum aus hemmungsloser Gewalt hineingezogen.

Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit werden immer durchlässiger, man weiß nicht mehr, ob die Spuren der Geschichte, die Seth verfolgt, irgendwohin führen außer ins Verderben, ob die Reise ein Ziel hat, außer dass sie ins Herz der Finsternis geht. Seth irrt im schwülen Klima des rassistischen Südens umher, verfolgt von gequälten Mississippi-Geistern, bis Charlie Shaw selbst erscheint. Charlie Shaw, der auch „Blind Willy McTell“ heißen könnte, dem Bob Dylan ein Denkmal gesetzt hat. Ein Fluch schleicht Charlie Shaw „wie eine Katze um die Füße“.

„Believe I buy me a graveyard of my own“, diese Zeile des Songs, der so roh wie bei Leadbelly geklungen haben mag, verdichtet sich nun zur unheimlichen Drohung, durch Voodoo die Erinnerung an die alten Bluesmusiker auf alttestamentliche Weise zurückkehren zu lassen, denen man ihre Musik genommen hat. Kunzru ist eine brillante Variation auf Joseph Conrads großes Thema gelungen.

Hari Kunzru: „White Tears“. A. d. Engl. v. ­Nicolai Schweder-Schreiner, Liebeskind, München 2017, 350 Seiten, 22 Euro

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