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Die WahrheitDer Milchstein-Nachlass

Kolumne
von Eugen Egner

Die Wohnung war groß, voller rätselhafter baulicher Zustände und gespickt mit seltsamen Mitteilungen. Eines Tages machte ich mich auf den Weg …

A ußer mir gab es noch einen zweiten Mieter der Wohnung, einen älteren Herrn, den ich nie zu Gesicht bekam. Die große Distanz zwischen unseren Wohnbereichen verhinderte auch, dass ich ihn je hörte. Doch lag dies nicht allein an der Entfernung. Zusätzlich wirkten die zahllosen Schränke und Regale, Kommoden und Wandstücke, die ein labyrinthartiges Gefüge aus Zimmern und Gängen entstehen ließen, stark schallabsorbierend.

Eigentümlich war der Umstand, dass nicht die erwähnten Aufbewahrungsmöbel an vorhandene Wände gestellt, sondern dass offenbar Wandabschnitte hinter die Möbel gemauert worden waren. Für mich sah es kaum so aus, als ob dabei ein Plan zugrunde gelegen hätte, doch ich war nie ein guter Beobachter.

Oft hingen morgens Zettel in meinem Wohnbereich, auf denen rätselhafte Mitteilungen standen wie „Die Behauptungen über Milchstein müssen aufhören.“ Es bestand die theoretische Möglichkeit, dass der ältere Herr am entgegengesetzten Ende der Riesenwohnung heimlich herüberkam, wenn ich schlief, und die Zettel aufhängte.

Um Klarheit zu schaffen, wollte ich ihn darauf ansprechen. Eine vorherige Terminabsprache hielt ich für Zeitverschwendung, deshalb musste ich in Kauf nehmen, eventuell zur Unzeit bei ihm zu erscheinen. Um dieses Risiko zu verringern, wählte ich eine möglichst unverfängliche Uhrzeit für meinen Besuch. Der Weg war weit, die Gefahr, mich zu verirren und nicht mehr zurückzufinden, beträchtlich.

Schließlich erreichte ich mein Ziel. Ich traf den etwa siebzigjährigen Mann hinter seinem Schreibtisch sitzend an. Er hieß mich Platz nehmen und erzählte mir unaufgefordert, er züchte Tauben in der Wohnung. Das erstaunte mich, denn es war wohl zu erwarten, dass die Vögel dann auch zu mir hinüberfliegen würden. Ich hatte jedoch niemals das Geringste davon mitbekommen.

„Eine Taube zu besitzen“, sprach der Mann, „bedeutet, dreimal am Tag Unglück zu haben: morgens, mittags und abends.“ Sein negatives Urteil über Tauben hinderte ihn indes nicht, mich zu tadeln, als ich eine verscheuchte, die sich dreist auf dem Schreibtisch niederließ. Unter solchen Umständen fand ich es nicht passend, die Zettel zu erwähnen. Daher stand ich leise auf und wandte mich den sich auf einem Beistelltisch türmenden Fotoalben, Mappen und Aktenordnern zu. „Das ist der Milchstein-Nachlass!“, rief mir der ältere Herr zu, „den müssen Sie sich ansehen!“

Es war ein großer Nachlass, den ich nun zu sichten begann. Er bestand aus Korrespondenzen, Fotografien, Rechnungen und Kontoauszügen – sehr imposant. Beim Durchblättern der Fotoalben gewann ich den Eindruck, eine auf zahlreichen Bildern zu sehende Frau müsse eine wichtige Rolle im Leben des Herrn Milchstein gespielt haben. Nur zu gern hätte ich Näheres über die Frau erfahren, doch gerade als ich es wagte, den Mann am Schreibtisch nach ihr zu fragen, kam die Nachricht, im Louvre sei eine Großspende aus Holz für mich eingetroffen.

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