: Braucht ganz Europa den Generalstreik?Ja
GEMEINSCHAFT Am Mittwoch werden die Menschen in Spanien und Portugal ihre Arbeit verweigern, um gegen die Sparauflagen der EU zu protestieren. Sie fordern Solidarität ➤ Mehr Bewegungen SEITE 18
Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.
Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.taz.de/streit und facebook.com/taz.kommune
Oskar Lafontaine, 69, führt die Fraktion der Linkspartei im Saarländischen Landtag
Ein europaweiter Generalstreik ist notwendig! Eine Gesellschaft ist demokratisch, wenn sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Davon kann in Europa keine Rede sein. In brutalster Form werden Arbeitnehmer, Rentner und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes für die Zockereien der Banken und ihrer Kunden zur Kasse gebeten. Der Politik gelingt es nicht mehr, die Belange der Bevölkerungsmehrheit gegen die Interessen der Banken und Konzerne durchzusetzen. In einer solchen Situation ist der Generalstreik ein Mittel, um die Fehlentscheidungen von Parlamenten rückgängig zu machen. Das Versagen der Regierungen, die korrupte Politik in Athen und die Lohndrückerei in Deutschland schaden den Menschen in ganz Europa. Ein europaweiter Generalstreik bietet die Chance, die brutale Politik der Umverteilung zu stoppen.
Bernadette Ségol, 63, Generalsekretärin im Europäischen Gewerkschaftsbund
Seit geraumer Zeit organisiert der EGB seine Kampagne gegen die vorherrschende Sparpolitik. Inzwischen hat selbst die IAO, die Internationale Arbeiterorganisation der UNO, davor gewarnt, dass die Sparpolitik in die Rezession führt. Daher fordert selbst die IAO einen „Jobs Pact“. In der Tat war die Arbeitslosigkeit noch nie so hoch wie heute, und die Kluft zwischen der Dramatik der Situation und der Untätigkeit der europäischen Institutionen ist größer denn je zuvor. Die Gewerkschaften in Portugal, Spanien, Griechenland und Italien haben zu einem Generalstreik aufgerufen. Wenn der Streik das einzige Mittel ist, sich Gehör zu verschaffen, dann braucht ganz Europa Streiks, aber auch Demonstrationen und andere Solidaritätsaktionen, um für einen Kurswechsel hin zu einem sozialen Europa der Vollbeschäftigung einzutreten.
Ingrid Gilcher-Holtey ist Professorin für Zeitgeschichte der Universität Bielefeld
Ich unterstütze den Aufruf der Gewerkschaften zu einem europaweiten (General-)Streik und Protesttag am 14. November. Die Aktionen setzen ein Zeichen gegen die Aushöhlung des Sozialstaats in Europa. Sie unterstreichen die Solidarität mit den Ländern Südeuropas, die gegenwärtig vom Sozialabbau durch Kürzungspolitik noch schwerer betroffen sind als Deutschland. Ein langfristiger Erfolg gegen die Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik wird jedoch nur durch Vernetzung der europäischen sozialen Bewegungen und Koordinierung ihrer Forderungen möglich sein. Die aktuelle Situation in Europa spitzt die Frage zu, in welcher Gesellschaft wir leben wollen? „Politik entsteht“, so Hannah Arendt, „in dem Zwischen-den-Menschen“. Der 14. November bietet die Möglichkeit, dieses Politikverständnis zu manifestieren.
Ursula Engelen-Kefer, 69, war bis 2006 stellvertretende Vorsitzende des DGB
Sind wir in Deutschland auf einer Insel der Seligen? Die überschuldeten südeuropäischen Euroländer müssen die bittere Medizin nehmen – lautet das Credo. Betroffen ist die Mehrzahl der Menschen in den Krisenländern durch massive Einschränkungen ihrer Lebensgrundlagen und eskalierende Arbeitslosigkeit. Die Wohlhabenden können Einkommen und Vermögen ins Ausland schaffen. Wenn wir die Banken nicht retten, werden wir untergehen – lauten die Drohungen. Die Leidtragenden bei uns, Niedriglöhner und Arme, haben keine politisch vernehmbare Stimme. Wollen wir nicht warten, bis wir in den Strudel von Überschuldung und Wirtschaftsrezession hineingezogen werden, müssen wir zivilen Ungehorsam leisten. Erforderlich ist ein Recht auf europaweite Streiks.
Nein
Ise Bosch, 48, ist Millionenerbin und im Vorstand der Frauenstiftung Filia
Ich bin nicht vom Fach, aber ich verstehe, dass Streiks nur etwas bringen, wenn wirklich viele mitmachen, und das ist hier unwahrscheinlich. Wenn ich mir die Medien ansehe, die jetzt zum Soli-Streik auffordern, dann turnt die Hetze gegen ab. Als kritische Erbin – ja, so was gibt’s – freue ich mich, dass endlich über Ressourcenverteilung geredet wird. Reiche sollen Steuern zahlen – aber lasst das doch mit der Feindbildpflege, die nervt. Auch Dagobert, der Promi bei „umfairteilen“. Solidarität mit den Betroffenen in Portugal und Spanien, ja bitte. Jemand am anderen Ende meines Dorfs hatte im letzten Winter die Europaflagge gehisst, fett rot durchgestrichen. Im Gegenzug haben wir vier Länder geflaggt: Griechenland, Italien, Spanien, Portugal. Ich stehe nicht auf Nationalflaggen, aber so als Grüppchen stehen sie für Solidarität. Wie wär’s am Streiktag, 14. 11., mit einer südeuropäischen Flaggenaktion? Hier auf dem Land hängt monoton Schwarz-Rot-Gold, ein paar Portugal- und Griechenlandflaggen werden echt auffallen.
Armin Nassehi, 52, ist Professor für Soziologie an der LMU München
Nein, denn ein Streik setzt letztlich klare Antipoden voraus. Das Problem ist aber komplexer. Die klassischen Antipoden Kapital und Arbeit sind derzeit gemeinsam Gefangene eines Spiels, das viel komplexer ist als die klassische Konstellation, die durch Streiks noch angemessene Motive für Problemlösungen erzwingen konnte. Aber zu begrüßen ist der Aufruf zu einem solchen Streik, denn er transzendiert die nationalstaatlichen Grenzen von Solidarität und Konkurrenz auf die gesamteuropäische Ebene. So sehr ein europaweiter Streikaufruf die Komplexität des Problems unterschätzt, so nützlich ist der Aufruf, weil er auf Gesamteuropa verweist. Der Ruf nach einer falschen Strategie führt also in die richtige Richtung. Früher hätte man das eine dialektische List der Vernunft geheißen, heute ist es Ausdruck einer Komplexität, für die uns die diagnostischen Mittel und politischen Forderungen fehlen.
Stefan Kramer, 48, ist promovierter Jurist und Fachanwalt für Arbeitsrecht
Aus Sicht eines deutschen Arbeitsrechtlers scheidet ein Generalstreik bereits aus rechtlichen Gründen aus. Ein Streik als Arbeitskampfmaßnahme muss von einer Gewerkschaft getragen werden, auf eine tarifliche Regelung gerichtet sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden. Richtet sich die Arbeitsniederlegung hingegen – wie hier – nicht gegen eine andere Tarifpartei, sondern sollen Gesetzgebung oder Verwaltung zu einem bestimmten Handeln veranlasst werden, handelt es sich um einen politischen Arbeitskampf. Dieser ist unzulässig und rechtswidrig. Legen Arbeitnehmer aus politischen Gründen ihre Arbeit nieder, verletzen sie ihren Arbeitsvertrag. Die europäische Solidarität sollte nicht durch eine rechtswidrige Arbeitsniederlegung, sondern durch wirtschaftliche Hilfestellung bekundet werden.
Uli Moll arbeitet als freier Autor in Fürth und hat unsere Frage auf taz.de kommentiert
Ebenso gut könnte man fragen: Brauchen wir den bewaffneten Kampf? Oder: die Bombe? Der Generalstreik ist ein Mittel, das richtig wie falsch eingesetzt werden kann. Es ist ein fataler Irrtum zu glauben, dass der Generalstreik – Machtmittel der Arbeiterklasse – nicht auch zu Zwecken verwendet werden könnte, die schlecht sind. Was wir bräuchten: dass gedacht würde vor Entscheidungen, vor Forderungen. Dann hätte es sich erübrigt mit dem Generalstreik. Dann wäre zum Beispiel Konsumverweigerung mächtig genug.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen