Materie am falschen Ort: Kunstim Müll
Hamburger Kunsträume
von Hajo Schiff
Die Erfahrungen der deutschen Geschichte verbieten es, Kunst zu vernichten. Niemand wird sich trauen, Artefakte als Müll zu bezeichnen – selbst dann nicht, wenn es vielleicht stimmen sollte. Aber Müll ist eigentlich nichts anderes als Materie am falschen Ort. Diese Definition ist nahe einem Kunstbegriff, der mit bloßer Umkontextualisierung schon Erkenntnisse erringt: Das bekannteste Beispiel ist das Urinoir, das Marcel Duchamp als „Fountain“ in eine Kunstausstellung brachte.
Da die Kunst heute vor allem durch sozialpolitische Themen wirksam werden will, werden nicht mehr nur Müllensembles im Kunstraum gezeigt, sondern die Kunst geht gleich auf den Recyclinghof. Ein dreiköpfiges Kuratorenteam mit der Designtheoretikerin Anke Herrmann, dem Philosophen Harald Lemke und der Konzeptkünstlerin Nana Petzet organisiert für die drei ersten Juni-Wochenenden ein Müllprojekt bei der Stadtreinigung in der Feldstraße 69 in St. Pauli. Über zwanzig Künstlerinnen und Künstler aus Hamburg und dem vermüllten Rest der Welt untersuchen dort jeweils samstags von 17 bis 24 und sonntags von 14 bis 20 Uhr kritisch die Kultur des Mülls und geben mit Ausstellung, Vorträgen und Filmen Vorschläge dafür, was vor der oft im Bewusstsein weitgehend ausgeblendeten, aber real durchaus drohenden Totalvermüllung der Welt, ja des erdnahen Universums noch positiv zu machen ist.
Ein tröstender Gedanke mag sein, dass die Archäologen einen Großteil ihres Wissens aus antiken Müllhalden und Abfallgruben haben. Doch Horror kommt auf, bedenkt man, dass Milliarden Tonnen von Plastik in den Weltmeeren schweben, so viel, dass es bald zur Bildung von Müllinseln kommen wird. Zu fordern ist eine generelle Veränderung der Materialnutzung, was aber nicht ohne eine Veränderung von Wahrnehmung, einem künstlerischen Kernbereich, funktionieren kann. Diese Gedankenanstöße beginnen passend am Pfingstfest, an dem nach traditionellem Glauben göttliche Erkenntnis über die Menschen ausgeschüttet wurde: Halleluja – happy Mülldays.
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